Entfesselt
heftig, als wollte sie sie gleich noch einmal töten.
»Urg«, sagte ich und schaffte es endlich, auf die Füße zu
kommen. Wenn Dufa die Ratte losließ und sie mir gegen die Beine flog, würde ich garantiert loskreischen wie ein kleines Mädchen. »Vielleicht solltest du sie ihr wegnehmen?«
Reyn schüttelte den Kopf. »Nein, es ist ihre Beute. Sie wird sie vermutlich fressen.«
»Oh.« Igitt. Aber okay, ich gebe es zu - ich habe auch schon Ratten gegessen. Und würde es sicher wieder tun, sollte es jemals zu einer erneuten Hungersnot kommen und ich Rinde und Gras nach wochenlanger einseitiger Ernährung nicht mehr sehen könnte. Aber würde ich zuerst damit spielen? Nee. »Ist bei dir alles okay? Wieso bist du hier drin?«
Ich hob den Amethyst auf, wobei ich sehr darauf achtete nicht in die Flugbahn der Ratte zu geraten. »Ich habe meditiert.«
Er sah nicht überrascht aus. »Ach so. Es ist Zeit zum Abendessen.« »Jetzt schon? Es ist doch noch hell draußen.«
Reyn nickte und trat zur Seite, damit ich die Box verlassen konnte. »Klar, es wird ja auch Frühling«, sagte er.
Ja, dachte ich. Frühling, gelobter Frühling, nach einem hundert Jahre langen Winter.
Wir gingen zusammen ins Haus.
26
Nach dem Essen stand ich an der Spüle, fuhr mechanisch mit einem seifigen Schwamm über die Teller und stapelte sie zum Abspülen auf. In Gedanken war ich immer noch bei den Bildern, die mir während meiner Meditation erschienen waren. Ich hatte keinen Hinweis darauf finden können, wer von uns der Verräter sein könnte. Aber vielleicht hatte ich es in meiner Vision gesehen und nur noch nicht begriffen. Oder es war einfach unmöglich, es herauszufinden.
Beim Abendessen hatten Asher, Solis und Ottavio darüber diskutiert, welche Sicherheitsmaßnahmen sinnvoll wären - wie etwa Fluchtwege bei einem Feuer und Beschwörungen gegen jede nur denkbare Art von Übel. Daisuke, Joshua und Reyn hatten vorgeschlagen, dass wir Kampftechniken trainieren sollten, um herauszufinden, wer in vorderster Linie kämpfen konnte und wer die Wasserträger und Gewehrlader im Hintergrund sein sollten. Also, nicht wortwörtlich, aber so ungefähr. Ich hatte daraufhin vorgeschlagen, dass wir alle unsere Sachen packen, uns an irgendeinen Strand verziehen und dort Drinks mit kleinen Schirmchen schlürfen sollten. Nur um diesem ganzen Irrsinn aus dem Weg zu gehen.
Na, egal. Hier stand ich nun und hatte mal wieder Küchendienst. Ich meine, wenn wir in unmittelbarer Gefahr wären, würden wir doch sicher nicht mehr das Geschirr abwaschen, oder? Sollte ich nicht lieber einen Vorrat von Krötenwurz oder Blutsteinen anlegen oder so etwas? Aber der monotone Rhythtmus des Abwaschens war irgendwie beruhigend. Auch wenn sich in meinem Kopf die Gedanken überschlugen, machten sich doch wenigstens meine Hände nützlich.
Eintauchen, abwischen, stapeln. Bei meiner Ankunft waren es dreizehn Personen gewesen. Und jetzt, nach all den Zu- und Abgängen, waren es vierzehn. Vierzehn Teller.
»Hallo?«
Ich schaute erschrocken auf und musste feststellen, dass Amy mich anlächelte.
»Häh?«
»Du warst wohl in Gedanken«, sagte sie. »Ich hatte dich gefragt, ob ich übernehmen soll, weil du schon mehr als deinen Teil gemacht hast.« Sie deutete auf das Spülbecken.
Mein erster Gedanke war: Gott, ja! Aber dann erkannte ich, wie friedvoll es war, hier im warmen Seifenwasser zu arbeiten, und dass es mir beim Nachdenken half. Als würde die Arbeit meine Gehirnzellen lockern oder so.
»Oh, danke«, sagte ich und stellte einen weiteren Teller auf den Stapel. »Aber ich mache es eben selbst fertig. Würdest du das Geschirr wegräumen?« Mit einem Kopfnicken deutete ich auf die sauberen und trockenen Servierschalen vom Abendessen. »Klar, kein Problem«, erwiderte Amy und griff nach einer schmiedeeisernen Auflaufform.
Sie dackelte übrigens immer noch hinter Ottavio her und zwang ihn, so oft mit ihr zu reden, wie es ging. Erst war er total ahnungslos gewesen, dann gereizt, dann dezent abweisend und mittlerweile eher wachsam, aber nicht mehr genervt. So was ist unser Unterhaltungsprogramm, da wir ja nicht fernsehen.
Durch die gelben Gummihandschuhe hindurch konnte ich die Wärme des Wassers spüren; ich konnte das Wasser riechen und den Lavendelduft des Spülmittels. Das Küchenfenster, neu eingebaut und jetzt isolierverglast, ließ keine Kälte mehr durch, wie es das alte getan hatte. Draußen war
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