Entfesselt
geendet hatte. »Ich meine, ich weiß nicht, wieso du die acht Häuser gesehen hast, aber es ist bedeutsam und ich muss darüber nachdenken. Der Stammbaum ist allerdings leicht zu interpretieren, vor allem der Zweig deiner Familie mit den zu früh gekappten Ästen deiner Eltern und Geschwister.« »Wofür standen die Blätter an meiner Ranke? Soll ich sechs weitere Häuser begründen, oder was? Stand das eine abgefallene Blatt für etwas, das ich mit meiner Kraft hätte tun sollen und bei dem ich versagt habe?«
Ihr Gesicht wurde sanft. »Nein, Liebes. Das gefallene Blatt war dein Sohn, der gestorben ist.«
Die steinerne Pfeilspitze der Trauer bohrte sich wieder einmal in mein Herz.
»Nein«, widersprach ich nach einer Minute. »Ich glaube nicht, dass es das bedeutet. Da waren doch noch fünf andere Blätter.«
River sah mich nur an.
»Nein«, sagte ich wieder. »Es waren fünf, es können also keine Kinder sein. Logischerweise nicht.«
River biss sich auf die Lippe und schaute weg.
»River, es waren fünf Blätter«, sagte ich bockig. »Und ich werde nie wieder Kinder haben. Niemals.«
»Nun, es war deine Vision, nicht meine«, sagte sie. »Zu schade, dass so viel davon durch das Wasser zerstört wurde. Es sieht ganz so aus, als wüsstest du nicht, wie der Rest des Baums aussah ....oder du wolltest es nicht wissen.«
»Kann sein«, sagte ich und verdrängte hastig die absurde Vorstellung von weiteren Kindern aus meinem Kopf.
Ihr Blick war nervtötend verständnisvoll. »Was war der zweite Punkt? Du sagtest doch, dass du über zwei Dinge sprechen wolltest.«
»Oh.« Ich atmete tief aus und spürte, wie sich meine Muskeln wieder anspannten. »Nun, wie gerade erwähnt, habe ich heute meditiert. Freiwillig. Ganz allein. Schon zum zweiten Mal.«
»Aha.«
»Und nach dem Abendessen habe ich abgewaschen. Amy kam und hat angeboten, mich abzulösen, weil ich schon fast fertig war, und da habe ich gesagt ... nein danke, ich mache es fertig.«
River hob die Brauen. »Tatsächlich? Du hast ihr Angebot abgelehnt?«
»Ja. Und deswegen ... bin ich total ausgeflippt.« Wie nicht zu übersehen war. Ich kroch tiefer unter die Decke und zog meinen Schal enger um den Hals. Ich konnte mir absolut nicht vorstellen, dass ich mich wirklich ändern würde, also tief im Innern. Klar, die edle Nastasja hatte dieses Projekt in der Stadt durchgezogen, den Leuten Arbeit verschafft. Aber auch wenn andere davon profitiert hatten, hatte ich es doch getan, um mir selbst zu helfen - nicht denen. Und ja, die gute Nastasja war schon eine ganze Weile nicht mehr in Schwierigkeiten geraten, aber dass das nicht von Dauer sein würde, war wohl jedem klar. Es hatte sich bisher nur keine Gelegenheit geboten. Aber die würde schon noch kommen. Irgendwas Fieses kam doch immer. Das Leben bot mir grundsätzlich die Chance, etwas furchtbar zu verbocken. Das war eben so.
Ein paar Minuten lang saß River nur da und starrte nachdenklich ins Leere. Mein Herz begann wieder zu hämmern und ich schloss die Augen.
»Du erkennst dich nicht wieder«, sagte sie schließlich. Jeder sollte eine River haben. Man denke nur an all die Therapien, die man sich sparen könnte, wenn man seine Gefühle nicht erklären muss.
»Nein.« Es kam gedämpft unter der Decke hervor.
»Du hast Angst, dass du es nicht durchhalten kannst.« »Ich weiß, dass ich es nicht durchhalten kann! Ich meine, für immer? Unmöglich. Bestimmt nicht länger als ein paar Stunden. Höchstens einen Tag.« Meine Stimme war hysterisch schrill und ich rollte mich enger zusammen. Ihr ganzer Unterricht, ihre Arbeit, dass sie mich vor Incy gerettet hatte - das alles nur, damit ich es halbwegs schaffte, einen Tag lang das Richtige zu tun? Einen Nachmittag lang?
»Schätzchen?« River beugte sich über mich. »Du musst es nicht für immer durchhalten.«
»Was redest du da? Natürlich muss ich.« Oder war es vielleicht so, dass man es ein Jahrhundert lang tat, dann ein Jahrhundert frei hatte und im Jahr 21-irgendwas konnte ich dann wieder die Sau rauslassen und so schrecklich sein wie immer? »Nein, Liebes. Das sollte sich niemand vornehmen und auch nicht glauben, dass man immer nur richtige Entscheidungen treffen kann. Daran glaube nicht einmal ich. Wenn ich jemandem ein solches Versprechen geben müsste, würde ich garantiert durchdrehen.«
»Wie kannst du so was sagen? Du bist der gütigste Mensch, den ich kenne. Aber ich bin ...
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