Entfesselt
es kalt und dunkel. Ich scheuerte gerade einen Emailletopf, als es mir auffiel: Ich hatte zum zweiten Mal absichtlich meditiert und jetzt entschieden, das Geschirr zu Ende abzuwaschen, statt mich bei der ersten Gelegenheit zu verdrücken. Meine Hände hörten auf, sich zu bewegen - der Gedanke war so schockierend, dass ich mich langsam an ihn heranpirschen musste. Als ich herkam, hatte ich alles gehasst, was River (und alle anderen) mir auftrugen. Mein Plan war immer, es zu tun, bis sie nicht mehr aufpasste und ich mich davor drücken konnte, am besten gleich für ein paar Wochen. Sie hatte mir erklärt, wie wichtig es war, jeden Moment wahrzunehmen und alles mit voller Achtsamkeit zu tun, was immer es war. Ich hatte zwar genickt, um ihre Gefühle nicht zu verletzen, insgeheim aber gedacht, dass das wieder so ein Öko-Bio-was-nicht-noch-Blödsinn war, den ich mir schnellstens wieder von der Backe wischen würde.
Und doch stand ich nun hier. Ich hatte die Kröte geschluckt. River hatte mich schließlich doch bekehrt.
Diese Erkenntnis erschütterte mich. Dem unbedarften Außenstehenden erscheint es vielleicht unbedeutend, aber für mich fühlte es sich an, als würde ich von einer Flutwelle der Veränderung überrollt, die ich nie im Leben für möglich gehalten hatte. Oder erstrebenswert. Oder tolerierbar.
Plötzlich fühlte ich mich wieder wie auf diesem norwegischen Boot. Es war, als würde ich auch diesmal alles Vertraute hinter mir zurücklassen und befände mich auf dem Weg in eine unbekannte Zukunft, ein ganz neues Leben, das entweder wundervoll sein würde oder aber hart, schmerzhaft und grauenvoll enttäuschend.
»Nastasja, was ist losr?« Daisuke ließ ein paar Gläser ins Spülwasser gleiten. »Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.«
»Äh ...« Ich flippte vor lauter Selbsterkenntnis total aus und es kostete mich meine ganze Überwindung, nicht sofort wegzurennen. Auf Daisukes Gesicht erschien Besorgnis. Ich stand wie erstarrt an der Spüle, die Hände noch im Seifenwasser, die Füße am Boden festzementiert. Meine Augen waren panisch aufgerissen und ich brachte kein Wort heraus. Daisuke zog meine Hände aus dem Wasser, streifte mir die Handschuhe ab und schob mich mit sanfter Gewalt aus der Küche. Amy und Jess sahen verwundert zu, griffen aber nicht ein.
Meine Haut war kalt und ich atmete schnell und flach, als würde ich gleich in Ohnmacht fallen. Draußen auf dem Flur rief er nach River, die sofort aus dem Wohnzimmer kam. Sie brauchte nicht einmal zu fragen, was los war - ein Blick in mein Gesicht reichte. Sie trat an meine andere Seite und sie und Daisuke bugsierten mich nach oben in mein Zimmer. Es war mir echt peinlich, aber in mir blockierte alles und ich konnte absolut nichts dagegen tun.
Daisuke verzog sich wortlos und schloss die Tür hinter sich. River drückte auf meine Schultern, bis ich aufs Bett plumpste. Zitternd sank ich zur Seite, als River mich hinlegte und zudeckte. Sie drehte die Heizung auf und das anheimelnde Zischen verriet mir, dass mein Zimmer schon bald eine wohlig-warme Zuflucht sein würde. Dann setzte sie sich auf mein Bett, legte eine Hand auf das Häufchen unter der Decke, das ich war, und wartete.
Als ich hier in meinem Bett lag und mein Gehirn Achterbahnfahren spielte, erkannte ich, dass Panik (also, Panik ohne äußere Ursache wie etwa einen Wikingerkrieger) nicht so lange anhält, wie ich gedacht hatte. Meine Panik, von der ich erwartet hatte, dass sie mein Leben und meine Gedanken zukünftig beherrschen würde, löste sich nach etwa einer halben Stunde. Ich hatte sie noch nie lange genug ertragen, um das zu wissen. Allmählich hörte ich auf zu zittern, denn die Wärme des Zimmers und Rivers Anwesenheit schienen eine beruhigende Wirkung auf mein panisches Gehirn zu haben. Nach und nach begannen meine Synapsen wieder kontrolliert zu feuern und kurz darauf konnte mein Bewusstsein tatsächlich wieder Worte formen.
Schließlich sah ich zu River auf. Sie wartete.
»Zwei Dinge«, krächzte ich mit trockener Kehle. Sie trat an mein kleines Waschbecken und holte mir ein Glas Wasser. Ich trank es aus und fühlte mich wie ein wiederbelebtes Salatblatt. »Erstens.« Ich erzählte ihr alles von meiner Meditation: dem purpurnen Sternenhimmel, dem Hinunterfallen auf die Erde, der Landschaft, dem Stammbaum, den fehlenden Namen und so weiter.
»Ich weiß nicht, wie es noch klarer hätte sein können«, sagte sie, nachdem ich
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