Entfesselt
Gelegenheiten ließ ich mir etwas aufschwatzen, was mehr seinem Geschmack entsprach. Damals fand ich es witzig - es war irgendwie schmeichelhaft, dass es ihn interessierte, was ich trug, und dass er fand, ich sollte das Beste aus mir machen.
An Reyn irritierte mich, dass er mich von meiner schlechtesten Seite kannte, jeden Spruch schluckte, den ich ihm an den Kopf warf, mich als totale Versagerin erlebte und sich trotzdem … etwas aus mir zu machen schien. Ich meine, was sollte ich denn davon halten?
Wir mussten beide einen Ausweis vorzeigen, als wir unsere Drinks bestellten: ich eine mädchenhafte Margarita und Reyn ein Bier mit Limette und einen Tequila zum Nachspülen. Es war merkwürdig, ihn in einem Restaurant zu sehen und nicht im Stall oder auf dem Hof.
Reyn quetschte den Limettenschaft in die Bierflasche und nahm einen Schluck. Er war so unglaublich männlich, dass ich es kaum aushielt. Ich trank meine Margarita in kleinen eisigen Schlückchen und musste wieder daran denken, wie ich mich in Boston abgefüllt hatte und wie grausig das gewesen war. Was wohl passierte, wenn Reyn einen Schwips hatte? Würde er dann lockerer werden, witziger oder charmanter oder -
Außer Kontrolle, wütend, gewalttätig. Ich hatte in meinem Leben schon einige gemeine Trinker erlebt - total nette Typen, die zu albtraumhaften Monstern wurden, sobald sie betrunken waren. So war Reyn doch sicher nicht. Ich hatte bisher keinerlei Anzeichen dafür entdecken können. Aber jetzt sah ich, wie er sich den Tequila in den Hals kippte, ohne eine Miene zu verziehen, und fragte mich, ob vielleicht der Moment gekommen war, in dem ich herausfand, dass sich Reyn in den letzten dreihundert Jahren doch nicht geändert hatte.
»Was ist los?«, fragte er. Er sah mich schon die ganze Zeit an.
Ich setzte mich aufrechter hin und versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. Jetzt mit »Nichts« zu antworten, wäre echt feige.
»Bist du jemals zur Schule gegangen? Oder aufs College?« Dann schon lieber ausweichen, das kann ich viel besser.
»Aufs College?«, fragte Reyn verblüfft und trank mehr Bier. »Ja. Und du?«
»Ich habe ein paarmal damit angefangen. Bin aber nie lange geblieben.« Was mich bis zu diesem Moment noch nie gestört hatte. Danke, Selbsterkenntnis. Wie ich dich liebe.
»Wieso nicht?«
»Es kam mir so ... langwierig vor. Es schien so lange zu dauern.« Ich zuckte mit den Schultern. »Können Unsterbliche ADS haben? Das wäre echt fies.«
Reyn lächelte, was bei ihm allerdings nur angedeutet wirkte. »Das wäre echt fies.«
»Was waren deine Hauptfächer?« So viel wie jetzt hatten wir noch nie miteinander geredet, ohne uns anzufeinden oder über unsere gemeinsame Vergangenheit zu sprechen.
»Verschiedene.« Er wurde abgelenkt, weil unser Essen kam. Ich versuchte, ein Fiepen der Ekstase zu unterdrücken, als ich mich auf das heiße, käsige, fetttriefende Essen stürzte, das so gar nichts mit dem River's Edge-Futter gemeinsam hatte. Ohne zu fragen, brachte mir die Kellnerin eine zweite Margarita und Reyn ein neues Bier, Limette und einen Tequila. Dabei lächelte sie ihn verführerisch an und beugte sich beim Abstellen der Getränke unnötig weit über ihn.
Ich verpasste ihr einen tödlichen Blick und sie verzog sich.
Instinktiv griff ich nach der Margarita, um meine Unsicherheit zu betäuben, bis mir klar wurde, was ich da machte. Langsam schob ich das Glas zur Seite, und als ich aufschaute, ruhten seine goldenen Augen auf mir.
Ich rang mir ein kleines Lächeln ab. »Was zum Beispiel?«
»Was ist los mit dir?« Bei Nell war er so gefühllos gewesen und hatte nicht einmal kapiert, dass sie unsterblich in ihn verliebt war, aber bei mir entging ihm nicht die kleinste Veränderung in meinem Gesicht.
»Nichts.« Feigling. »Also – welche Fächer hast du belegt?« Reyn sah mich an, als müsste er überlegen, ob er antworten oder das Thema wechseln sollte. »Äh, Geschichte.«
»Damit du nicht Gefahr läufst, die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen«, sagte ich nickend. »Gute Wahl.«
»Außerdem habe ich Ökonomie studiert – die Bewegung des Geldes um den Globus. Das war interessant. Und Medizin, einmal in den 1870er-Jahren und einmal direkt vor dem Ersten Weltkrieg. Dann den technischen Kram, den man in der Armee lernt – der Kanadischen Armee und der Russischen. Und bei den SEALs.«
»Den was?«
»SEALs. Ein Teil der Navy. In Amerika.«
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