Entfesselt
Beschwörungsformel in meinem Kopf auftauchen würde, tadellos und einer Walnuss angemessen. Natürlich würde das Ganze mit einem Hammer viel leichter gehen, aber darauf hinzuweisen gehörte sich wohl nicht.
Brauchte ich zu lange? Sollte ich die Beschwörung nicht längst fertig haben?
Komm schon, Feder, rede mit mir. Plötzlich wünschte ich, ich hätte das Amulett meiner Mutter, und wollte Asher fragen, ob er es schon repariert hatte. Ich wette, mit dem Ding konnte ich jede Nuss knacken.
Konzentrier dich. Atme. Lass alle Gedanken los. Öffne dich dem Universum. Annes ruhige Worte tauchten wieder in meinem Kopf auf.
Und ... je entspannter ich wurde, je mehr ich die anderen Gedanken aus meinem Kopf verbannte, desto mehr von meinem Beschwörungsunterricht fiel mir wieder ein. Ohne mich bewusst dafür zu entscheiden, begann ich, das Lied meiner Mutter zu summen, diese uralte Melodie mit den unverständlichen Worten, die sie immer benutzt hatte, um ihre Magie zu rufen. Aber anders als sie ließ ich die Magie durch mich hindurchfließen und nicht zu mir. So beschützte ich die Feder und alles um mich herum davor, dass ich ihnen die Magie raubte. Die Walnuss wurde in meiner Hand immer schwerer. Sie war alles, was ich jetzt noch sehen konnte. Meine Umgebung verblasste, verschmolz aber gleichzeitig mit mir, sodass sich die Grenzen zwischen uns verwischten. Das Gefühl der Macht, der Magie stieg in mir auf, eine vertraute Mischung aus Licht und Freude. Ich empfand mich als Teil von allem und alles war ein Teil von mir. Auch diese Walnuss. Ich lächelte. Jetzt brauchte ich nicht mehr zu tun, als zu denken: Öffne dich, zeige mir dein Inneres. Und die harte braune Schale öffnete sich wie eine Knospe, löste sich wie von Zauberhand. Glückselig betrachtete ich die Schale, die in zwei Stücke zerbrach und die braune Nuss enthüllte.
Ich atmete tief ein und die Geräusche der Natur stürmten wieder auf mich ein. Ich blinzelte und Ashers Gesicht war ganz nah. Seine braunen Augen blickten ernst.
Aufgeregt und stolz hielt ich ihm die Walnuss hin. »Das war wundervoll«, rief ich. »Eine wundervolle Beschwörung. Es war ganz leicht, nachdem ich meinen Kopf erst einmal verlassen hatte.« Ich strahlte ihn an und wartete darauf, dass er mir auf den Rücken klopfte und mir sagte, wie megaspitzenklasse ich war, wie begabt und wie fortgeschritten.
Stattdessen hüstelte Asher ein wenig und zeigte nach links. Ich machte große Augen angesichts des jungen Ahornbäumchens in etwa drei Metern Entfernung - seine Rinde war komplett verschwunden. Das nackte helle Holz glänzte im Sonnenlicht. »War ich das?«, japste ich. »Das wollte ich nicht. Hab ich seine ganze Rinde wegfliegen lassen?«
Asher nickte. »Hast du Schutzformeln gesprochen?«
»Oh je, ich schätze, es waren nicht genug. Es tut mir leid.« Und dann sah ich das Huhn. Rivers Hühner liefen tagsüber frei herum und dieses Huhn war offenbar ... meinem Zauber zu nahe gekommen. »Äh ... das Huhn da«, sagte ich geschockt.
»Es ... ist nackt.«
Asher nickte wieder. Er fing das federlose, sehr empörte Huhn ein und klemmte es sich unter den Arm. »Ich bringe es in den Stall«, sagte er. »Es kann nicht draußen herumlaufen, solange seine Federn nicht nachgewachsen sind.«
»Werden sie denn nachwachsen?«
»Das hoffe ich«, sagte Asher.
»Und was ist mit der Rinde des Baums?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Ich hoffe, die wächst auch nach. Aber wenn sie es nicht schnell tut, wird der Baum sterben.«
Jetzt fühlte ich mich wie die letzte Versagerin und mein stolzer Sieg war mir auf einmal superpeinlich. »Ich brauche mehr Übung«, meinte ich niedergeschlagen. Ja, ich hatte auch meine hellen Momente.
»Du hast es schon sehr gut gemacht.« Ich konnte Asher über dem Gezeter des Huhns kaum verstehen. »Du brauchst einfach mehr Übung und du musst alle Schutzformeln sprechen, nicht nur ein paar. Aber du hast es trotzdem sehr gut gemacht. Wir üben morgen noch einmal oder heute Nachmittag.«
Ich rieb mir die Stirn.
Asher und ich waren auf dem Weg zum Stall, als wir auf der Einfahrt das tiefe Röhren eines starken Motors hörten. Das war etwas Neues und Ungewohntes, also blieben wir stehen, um zu sehen, was da kam.
Es war ein neongelber Sportwagen, der viel zu schnell auf den unbefestigten Parkplatz geschossen kam, zur Seite schlitterte, dass der Kies spritzte, und nur knapp vor dem roten Pick-up der
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