Entfesselt
Länder im Norden hatten wenig bis gar keine Kohlevorkommen; also war diese Kohle vermutlich zu einem exorbitanten Preis importiert worden. Ich setzte die Kiepe ab und kniete mich hin, um die alte Asche aus dem Kamin zu kratzen, doch dann erregte ein Geräusch von draußen meine Aufmerksamkeit. Das Fensterglas war gewellt und fast undurchsichtig, aber die Fenster ließen sich öffnen. Ich stieß einen der schmalen Flügel auf und beugte mich vor, um auf die Straße hinuntersehen zu können. Eine Prozession füllte die enge Gasse: Edelleute zu Pferde, zwei Männer, die mit Standarten vorausritten, weitere gut gekleidete Reiter hinter den Edelleuten. Ich wich erschrocken zurück als mir klar wurde, dass die Standarten das Wappen meines Vaters trugen - fünf schwarze Bären auf rotem Grund. Ich ließ den Blick von einem Reiter zum nächsten wandern, aber ich erkannte niemanden.
»Ragnhild! Was geht da vor?« Die Dame des Hauses hastete ans Fenster. Ich konnte mich noch gut an sie erinnern.
»Eine Prozession, Mylady«, sagte ich. »Den Grund kenne ich nicht.«
Die Herrin beugte sich ebenfalls aus dem Fenster, um zuzusehen.
Die beiden Standartenträger hielten ihre Pferde an und stellten sich beiderseits der Gasse auf. Die Menschen verrenkten sich den Hals, um zu sehen, wer da kam, wen die Trompeter ankündigten. Aber dann schrie jemand: »Er wird jeden umbringen! Versteckt euer Gold! Versteckt euer Silber! Er kommt!
Allmählich bekam ich mit, dass Anne uns aus der Meditation holte, und die Vision verwehte wie Rauch. Wir brauchten eine Weile, um in die Wirklichkeit zurückzufinden - es war der aufwendigste Meditationszirkel gewesen, an dem ich je teilgenommen hatte, und ich vermutete, dass er auch für die anderen kein Spaziergang gewesen war.
Ich holte ein paarmal tief Luft und versuchte zu verarbeiten, was ich gerade gesehen hatte. Anne beugte sich vor und blies die Kerze aus, die in unserer Mitte brannte. Ich fragte mich, was die anderen wohl dachten - wir hatten einander an echten Tiefpunkten unseres Lebens gesehen und dann noch eine merkwürdige Vision über mich geteilt. Ich musste wieder daran denken, wie alle Anwesenden hier, mit Ausnahme von Anne, genickt hatten, als Ottavio herumgewütet hatte, wie dunkel und böse ich doch war.
Ach, zur Hölle mit ihnen.
»Was sollte das?«, fragte Charles, aber seine Stimme klang dünn.
Anne, die ziemlich erschöpft aussah, strich sich den dunklen Pony aus der Stirn. »Meine einzige Vorgabe war, dass wir sehen, was wir sehen sollten.« Ihr Kinn hob sich. »Ich denke, wir sind uns jetzt einig, dass wir alle dunkle Momente in unserer Vergangenheit hatten und uns deshalb nicht anmaßen sollten, über andere zu urteilen.«
»Das ist es nicht«, sagte Solis verlegen. »Es ist, wie ich schon sagte - Nastasja ist mehr als nur eine Unsterbliche mit einer schweren Vergangenheit. Wer sie ist, was sie repräsentiert, wird andere herlocken; andere, die es auf ihre Macht abgesehen haben, die sie wahrscheinlich auch töten wollen wie ihr Freund in Boston. Und das wird Auswirkungen auf uns alle haben.« »Wenn es zu einem solchen Kampf kommt«, sagte Anne, »werden wir bereit sein. Und wir werden alle zusammenhalten, um eine von uns zu schützen. Es gibt nur so wenige Tähti auf der Welt, dass wir es uns nicht leisten können, noch eine zu verlieren.« Ihre Stimme hatte einen stählernen Unterton und Solis musterte sie wortlos.
»Was hatte diese Geschichte am Ende zu bedeuten?«, fragte Charles. Seine helle Haut war vor Verlegenheit über die Enthüllung seiner Vergangenheit immer noch knallrot.
»Ich weiß es nicht«, sagte ich, obwohl mir die Erinnerung Herzschmerzen verursachte. »Diese Standarten - das war das Wappen unserer Familie. Aber ich glaube nicht, dass es mein Vater war - er hat seine Truppen nie in so große Städte wie diese geführt. Ich habe auch nie einen Aufmarsch wie diesen erlebt. Ich weiß nicht, worum es dabei ging. Aber es zu sehen, war schmerzhaft gewesen.
Meine Eltern waren Terávà gewesen, aber ich hatte trotzdem eine glückliche Kindheit verlebt. Die ersten zehn Jahre meines Lebens hatte ich mich geliebt, glücklich und sicher gefühlt. Ich wusste nicht, dass meine Eltern Mörder waren, dass mein Vater seine Macht um jeden Preis vergrößern wollte. Mein Bild von ihnen wandelte sich und das machte mich unendlich traurig. Ich hasste diese Wahrheit.
»Was hatte es mit den Bären auf sich?« Jess krächzte es
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