Entfesselt
seine Leute manipulierte. Es war kompliziert und anstrengend und ich hatte ja ohnehin nie Clanchef werden wollen.
Aber wenn ich es nicht wurde, würde einer meiner Cousins oder jemand anders die Stelle meines Vaters einnehmen. Und würden sie es gut machen? Mein Vater hat viele Hundert Jahre daran gearbeitet, all das Land und diese große Macht zu gewinnen. Würde das alles zerbrechen? Mich zu verdrücken, war immer noch sehr verlockend. Aber ... was würde mein Vater von mir denken, wenn ich weglief?« Reyn lachte kurz auf. »Er wäre angewidert und wütend. Er hätte mich vermutlich für meine Schwäche getötet. Diesen Gedanken ... konnte ich nicht ertragen.« Sein Gesicht war regungslos und er starrte einen Punkt an der Wand an. Ich wagte nicht zu atmen.
»Am nächsten Tag bin ich zu meinen beiden Cousins gegangen, als sie mit ihren Familien beim Abendessen saßen, und habe ihnen die Kehle durchgeschnitten.« Seine Hände fuhren durch die Luft und zeigten, wie er ihre Haare gepackt und ihnen von links nach rechts die Klinge über den Hals gezogen hatte.
Oh Gott, wie schrecklich.
»Ihr Blut spritzte durch die Gegend und es war, als schriebe ich damit meine Stärke nieder. Dann übernahm ich die Führung meines Clans aus Sterblichen und Unsterblichen. Und herrschte die nächsten hundert Jahre mit eiserner Faust.« Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich erinnerte mich nur zu gut, was dieser Clan mir, meinen Nachbarn und anderen Dörfern angetan hatte. Jeder, der meine Geschichten kannte, würde zu dem Schluss kommen, dass es nur eine Möglichkeit gab, sie zu betrachten.
Aber sogar hier, bei all dieser Zerstörung, den Morden und der Unterdrückung, gab es eine andere Seite. River hatte mir einmal gesagt, dass alles, was eine Vorderseite besitzt, auch eine Rückseite hat. Und je größer die Vorderseite, desto größer die Rückseite. Jetzt verstand ich endlich, was sie damit meinte.
Die alte Nastasja hätte an dieser Stelle eine spitze Bemerkung gemacht und das Ganze in einen Scherz verwandelt, weil das so viel einfacher wäre, als seinen Schmerz zu fühlen oder sich einzugestehen, dass schlimme Dinge passierten und dass sie uns beeinflussten und uns verletzten.
Aber die neue, weisere und vermutlich total langweilige Nastasja wusste nicht, was sie sagen sollte. Oder vielleicht doch. Ich legte eine Hand auf sein Knie und schaute in das Gesicht, in dem ich mich so leicht verlieren konnte.
»Es tut mir so leid.«
13
Man sollte meinen, dass Reyn und ich nach dieser intensiven, gemeinsamen Erfahrung glücklich und händchenhaltend herumhüpften. Aber leider war keiner von uns dafür normal genug. Wir kehrten zurück zu unserem vorsichtigen Waffenstillstand, ein paar Schwertkampf-Trainingseinheiten, verbunden mit gelegentlichen heißen Kuss-Einlagen - beim Aussteigen aus dem Truck, an eine Wand gelehnt, im Stall, beim Unkraut jäten im Garten. Durchgefroren, dreckig, mit Gartenhandschuhen und laufender Nase? Für einen Wikingergott offenbar unwiderstehlich.
Der Valentinstag kam und ging, und Amy überraschte uns mit einem hübschen herzförmigen Kuchen mit rotweißem Zuckerguss. Ottavio aß zwei Stücke davon, während sie ihn mit Adleraugen beobachtete. Etwas ging hier vor, aber ich wusste nicht was.
Es war nur offensichtlich, dass Ottavio, Daniel und Joshua sich auf einen schönen langen Familienbesuch einzustellen schienen. Wie. Nett.
Ottavio hatte offenbar entschieden, dass es seine Mission war, mich zu beobachten wie ein Forschungsprojekt, und ich gewöhnte mich bald daran, wie er meinen Stundenplan studierte und meine Bücher kontrollierte. Ich fing an, Postkarten mit Szenen aus dem Kamasutra in die Bücher zu legen und aus der Ferne kichernd wie eine Drittklässlerin zu beobachten, wie er missbilligend das Gesicht verzog.
Irgendwann in der zweiten Februarhälfte suchte ich mir einen ungenutzten Klassenraum in der Scheune, um freiwillig zu meditieren. Ich entzündete eine Kerze und legte vier Kristalle in die vier Himmelsrichtungen aus. Sie sollten mir beim Konzentrieren helfen. Es war unfassbar - Ottavio kam, setzte sich vor mich und sah mich eisig an, als wollte er meinen Protest herausfordern.
Ich entschied, darüber zu meditieren, was es bedeutete, eine Frau zu sein, über unsere Fähigkeit, Leben zu schenken, und den monatlichen Zyklus, der uns mit der Erde verbindet. Außerdem erlaubte ich mir einen lustigen Abstecher in die Vergangenheit, als
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