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Entfesselt

Entfesselt

Titel: Entfesselt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cate Tiernan
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Einwickelpapier auseinander. »Julie, ich schwöre bei Gott wenn du uns noch mal mit Wasabi-Aioli auf Thunfischsalat bestrafst, werden die Jungs in den Streik treten.«
      »Sag ihnen, sie sollen es essen und den Schnabel halten«, antwortete sie. »Das hier ist Brie, Kresse und Granny Smith Apfel mit einem Hauch Dijon-Senf.«
      Ich sah sie nur an.
      »Ich pack noch ein paar Pommes dazu«, murmelte sie.
      Dann war da noch die wie durch Zauberhand anwachsende Zahl von Lohnschecks, die ich jede Woche unterschrieb. Ursprünglich hatte ich acht Arbeiter angeheuert. Bill hatte den Trockenbau und die Klempnerarbeiten an Subunternehmer vergeben und das machte fünf weitere Leute. Jetzt drei Wochen später, hatte ich zweiundzanzig Leute auf der Lohnliste.
      »Bill!«, brüllte ich. Ich hatte mir einen Klapptisch und einen Gartenstuhl ins Schaufenster des letzten Ladens gestellt.
      Bill tauchte aus einem der Hinterzimmer auf.
      »Was ist das hier?«, fragte ich streng und wedelte mit einem Lohnscheck. »Wer zum Teufel ist Rusty?«
      Bill sah sich um und zeigte dann auf einen kleinen rothaarigen Teenager, der Rigipsstaub zusammenfegte. Und davon lag jede Menge herum. »Ich bezahle ihn fürs Fegen?«, fragte ich eisig. »Haben wir jetzt schon einen Subunternehmer fürs Fegen?«
      »Also ...« Bill nahm seinen Helm ab und wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn. Genau in diesem Moment kam eine Frau mit lockigen, kastanienbraun melierten Haaren durch eine der Eingangstüren herein.
      Als sie Bill sah, rief sie: »Puh! Tut mir leid, dass ich so spät komme. Ich wurde in der Kirche aufgehalten.«
      Bill murmelte etwas und sah an die Decke. Eigentlich sah er überall hin, nur nicht in meine Richtung.
      »Mama!« Rusty hatte sie gehört und ich erkannte sofort, dass er das war, was die Russen »vom Engel berührt« nannten. In Amerika bezeichnete man es als Downsyndrom. Zu Dostojewskis Zeiten glaubte man, dass diese Kinder eine besondere Unschuld besaßen und eine direkte Verbindung zu Gott hatten, und man behandelte sie entsprechend.
      Rustys Mutter strahlte mich an. »Ich kann Ihnen und Ihrem Vater gar nicht genug danken, meine Liebe. Als Bill sagte, dass Rusty nachmittags zwei Stunden hier arbeiten dürfte - also, ich kann Ihnen gar nicht sagen, was Sie damit bewirkt haben.« Sie senkte die Stimme. »Er liebt seinen Job - er fühlt sich damit so wichtig.«
      »Hi, Mama«, sagte Rusty und sie küsste ihn.
      »Hey, mein Engel«, sagte sie. »Können wir gehen?«
      Sie gingen zur Tür und die Frau drehte sich noch einmal um und hauchte ein weiteres Mal »Danke«.
      Ich sah Bill an, der so verlegen grinste wie ein Jagdhund. Ohne ein weiteres Wort schaute ich wieder auf meine Arbeit auf dem Klapptisch. Einen Augenblick später verschwand Bill. Ich ließ den Kopf in die Hände sinken und spürte, wie sich eine Welle des ... Unbehagens über mir ausbreitete wie ein Umhang. Unbehagen gemischt mit Verunsicherung. Früher hatte ich mich sofort mit etwas Stimmungsaufhellendem zugeknallt, vorzugsweise Margaritas. Vier kurze Monate waren wirklich wenig, um alte Gewohnheiten abzulegen. Und genau jetzt schrie alles in mir, sofort aufzuspringen und die nächste Bar zu finden. Zufällig wusste ich sogar, wo eine war: An der Zufahrt zum Highway gab es eine heruntergekommene Kneipe namens Salty's.
      Rund um mich herum dröhnten die Geräusche der Veränderung - sägen, hämmern, laut redende Arbeiter. Auch innerlich veränderte ich mich. Plötzlich fühlte ich mich orientierungslos, wusste nicht mehr, wer ich eigentlich war und was ich hier tat. Eine hektische Sekunde lang wünschte ich, wieder dort zu sein, wo ich vor sechs Monaten war, obwohl mir längst klar war, dass diese Zeit der Tiefpunkt meines ganzen Lebens gewesen war. Aber zumindest war es ein Tiefpunkt, den ich kannte, mit dem ich 'umgehen konnte, mit dem ich mich wohlfühlte - bis ich mich damit nicht mehr wohlgefühlt hatte.
      In den letzten vier Monaten hatten mir River und die anderen Lehrer immer und immer wieder gesagt, dass ich innehalten und meine Gefühle spüren sollte. Mich mit jedem neuen Gefühl hinsetzen und herausfinden, was es war. Ihrer Anleitung hatte ich es zu verdanken, dass ich die folgenden Emotionen jetzt genau identifizieren konnte: Angst, Panik, Depression, Abscheu, Gereiztheit, Wut und Mutlosigkeit. Herauszufinden, warum ich diese Dinge empfand, war jedoch etwas ganz anderes. Ich atmete flach. Ich wollte am liebsten

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