Entfesselt
sofort nach draußen stürmen. Ich hätte einen Mord begehen können, wenn ich dadurch nur diese Gefühle losgeworden wäre. Aber wieso fühlte ich so? Was war los mit mir?
»Was'n hier los?«
Die Stimme ließ mich erschrocken hochfahren. Es war fast, als hätte Gott selbst die Hand ausgestreckt und sie mir auf die Schulter gelegt.
Gott? Nicht ganz. Es war Dray.
Sie war durch die Ladentür hereingekommen und stand jetzt vor meinem Klapptisch. Ich hatte sie seit Monaten nicht mehr gesehen. Sie trug eine kurze, zu dünne Jacke mit einem gerupft aussehenden Kunstfellrand an der Kapuze, und ihr merkwürdig grün-braun gefärbtes Haar wuchs allmählich heraus. Sie sah aus, als wolle sie sich im Dschungel tarnen.
»Was?«, fragte ich.
Sie schwenkte die Finger mit dem abgeblätterten schwarzen Nagellack in Richtung der Arbeiter. »Was ist hier los? Was machst du hier?«
»Ich hab diese Scheußlichkeiten gekauft«, erklärte ich. »Und jetzt renovieren die hier alles. Entweder das, oder ich muss darauf bestehen, dass die Ratten Miete zahlen.«
Wir verzogen beide keine Miene.
»Was willst du damit?«
Ihre Augen waren immer noch mit einem fetten Lidstrich verunstaltet. Aber sie hatte ihren Lipgloss abgenagt und der ungeschminkte Mund ließ sie jünger aussehen als eine Siebzehnjährige.
»Wo hast du gesteckt?«, fragte ich. »Ich hab dich ewig nicht gesehen.«
Der altbekannte Ausdruck von Langeweile. »Meine Mom hat mich eine Zeit lang zu meiner Tante geschickt, um mit dem Baby zu helfen.«
»Wessen Baby?«
»Das von meiner Tante. Aber jetzt bin ich wieder da. Bei meiner Mom.«
»Wie war das Baby?« Drays unbewusster Hauch eines Lächelns überraschte mich.
»Er war süß«, sagte sie und hörte sich beinahe wie ein ganz normaler Teenager an. »Eigentlich ziemlich nutzlos, weißt du? Aber dann hat er gelächelt. Und das war total süß.«
»Und jetzt bist du wieder da.«
»Yoh. Und was willst du nun mit alldem hier anfangen?« »Beten, dass jemand diese Läden mietet. Und oben sind vier Wohnungen. Die will ich auch vermieten. Sie werden gerade renoviert.«
Dray wirkte nachdenklich. »Was willst du denn für die Wohnungen abzocken?«
»Nicht so viel. Sie sind klein. Und in dieser Straße. Und in diesem Kaff.«
Dray sah mich an und ich fragte mich, ob sie wohl versuchen würde eine der Wohnungen zu mieten, um wieder von ihrer Mom wegzukommen. Eines wusste ich aber genau: Ihr Loser-Freund war hier nicht willkommen.
Während wir redeten, waren draußen zwei Männer stehen geblieben und hatten durch die Schaufensterscheibe geschaut. Jetzt gingen sie zum zweiten Fenster und legten die Hände an die Scheibe, um besser hindurchsehen zu können. Einer der beiden zeigte auf mich und die beiden betraten den Laden. »Hallo«, rief der Größere. Er war schlank und wirkte auf eine rosige Weise gepflegt. Der Burberry-Mantel schadete auch nicht.
»Hi«, sagte ich. Dray verzog sich nach hinten, vielleicht um sich die Wohnungen anzusehen. Sie standen zurzeit ohnehin alle offen, weil die Arbeiter ein und aus gingen. Ich hoffte nur, dass Dray niemandem das Werkzeug klauen würde.
»Ist der Besitzer in der Nähe? Wir haben nach der Nummer des Maklers gesucht«, sagte der Mann. »Wir hatten gehofft, den Laden ganz am Ende mieten zu können.« Er zeigte die Straße hinunter, denn offenbar meinte er das Geschäft am anderen Ende.
»Das wäre großartig«, sagte ich und konnte nicht fassen, dass es wirklich so einfach sein würde. »Was haben Sie damit vor?«
Die Männer tauschten einen kurzen Blick, als fragten sie sich, ob sie wirklich mit dieser Göre reden sollten.
»Wir wollten schon immer einen Coffeeshop eröffnen«, sagte der andere Mann.
»Oh Gott, ja!«, rief ich. »Ja, das wäre perfekt! Kommen Sie, ich zeige Ihnen das Geschäft!« Ich schnappte mir meine Jacke vom Stuhl und bemerkte erst da ihr Zögern. »Äh, das hier ist meine Projekt. Mein ... Dad lässt es mich machen, damit ich Verantwortung lerne. Und so was. Aber ich habe mir schon ewig einen Coffeeshop in diesem Ort gewünscht. Ich bin sicher, dass mein Dad keine Einwände hat.«
»Coffeeshop?« Josie, eine der Trockenbauerinnen, füllte gerade Spachtelmasse nach. »Ich wollte schon immer für ein Café backen. Ich mache den besten Rosinenkuchen der Welt. Und Plätzchen. Und Kokoskuchen. Und-«
»Sie sollten unbedingt Telefonnummern austauschen«, sagte ich.
Weitere Kostenlose Bücher