Entfesselt
gut darin, in die Nacht hinauszurennen. Es geht zwar gewöhnlich nicht gut aus, aber trotzdem tue ich es immer wieder. Ein ziemlich merkwürdiges Verhaltensmuster. Vielleicht sollte ich mich mal eingehender damit beschäftigen.
Wenigstens rannte ich diesmal nicht ganz bis zu dem Zaun an der Straße, an dem Innocencio mich vor zwei Monaten aufgelesen hatte. Diesmal rannte ich zum Pferdestall, denn da war es warm. Drinnen war es dämmrig und still. Maggie, Rivers Jagdhündin und Dufas Mutter, lag mit ihrem Nachwuchs in einer der leeren Pferdeboxen. Ihre sechs Welpen lagen eng an sie gekuschelt und Dufa stach wie üblich heraus wie eine Kartoffel in einer Apfelkiste. Ihr eckiger weißer Körper passte so gar nicht zu den kugelrunden Wurfgeschwistern mit dem weichen grau gefleckten Fell und dem braunen Kopf, den auch Maggie hatte. Von hier aus konnte ich den merkwürdigen rotbraunen Fleck auf Dufas Seite sehen, der auf mich wirkte, als hätte jemand Wein über ihr verschüttet. Ich hatte keine Ahnung, was Reyn in ihr sah.
Wahrscheinlich dachte sie dasselbe über mich. Zumal ich nicht einmal ein Fell besaß.
Als Nächstes kam ich an der Box vorbei, in der das Teufelshuhn saß. Es war wach und starrte mich zutiefst bösartig an.
Ich streckte ihm die Zunge heraus und ging dann an den Pferden vorbei, die im Stroh herumraschelten, dösten oder Heu aus den Raufen zupften. Am Ende der Stallgasse stand die steile Leiter zum Heuboden. Ich stieg hinauf und musste einen Moment warten, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten.
Kurz darauf kletterte ich über staubige, juckende Heuballen bis zu dem kleinen Erker unter dem Dach. Weit entfernt war ein halbherziges Gewittergrummeln zu hören und einen Moment später prasselte über mir der Regen aufs Dach.
Das war total gemütlich.
Ich legte mich auf den Rücken, starrte zur Decke hoch und hoffte, dass das Dach wasserdicht war.
Wann würden diese Panikattacken endlich aufhören? Wann würde ich endlich in der Lage sein, mit allen Gefühlen fertigzuwerden, die mir das Leben vor die Füße warf? Ich dachte immer, ich würde Fortschritte machen. Aber dann sagte jemand etwas oder es passierte etwas und ich flippte wieder aus, konnte nicht mehr ertragen, hier zu sein, ich zu sein, in meiner Haut zu stecken. Ob sich das jemals änderte?
Plötzlich materialisierte sich etwas Riesiges zu meinen Füßen und ich kreischte vor Schreck los, bis ich im matten Gegenlicht die Umrisse einer goldfarbenen Mähne erkennen konnte, die dringend einen Haarschnitt brauchte.
»Psst, sonst weckst du den ganzen Stall«, sagte Reyn und setzte sich neben mich auf einen Heuballen. Ich richtete mich auf und wischte mir das Heu vom Sweatshirt.
»Ich hab dich gar nicht hochkommen gehört.«
Sein Lächeln war sogar in der Dunkelheit zu sehen. »Ich kann es also noch.«
Ich verzog das Gesicht. »Killermäßiges Anschleichen ist nichts zum Angeben.«
»Ich ziehe :es vor, es als Pfadfindertugend zu betrachten.«
Er war nicht gut im Witzereißen, aber bei diesem musste ich grinsen.
»Ich schätze, du bist nicht hergekommen, um mit den Pferden zu flüstern«, sagte er.
Ich schüttelte mit einem Seufzer den Kopf. »Ich weiß nicht, wieso ich hier bin«, gestand ich.
»Du wolltest nur, weg.«
Ich schlang die Arme um die Knie und nickte verlegen. »Ich weiß nicht, wieso.«
Er ließ sich vom Heuballen rutschen und setzte sich mir gegenüber auf den Boden. »Du versuchst, deine Gefühle zu analysieren? Sieht das Huhn deswegen so missgelaunt aus?«
»Ja und vermutlich.« Der schweigsame Reyn war ja schon total verführerisch, aber dieser etwas lebhaftere, zugängliche Reyn war einfach zum Dahinschmelzen. Wie üblich wäre ich am liebsten auf seinen Schoß gestiegen. Aber eine untypische Selbsterkenntnis ließ mich begreifen, dass dieser Wunsch zwar absolut verständlich war - es zu tun aber vergleichbar mit dem dringenden Bedürfnis nach ein paar Margaritas: etwas, das mich ablenken und etwas anderes fühlen lassen würde, als ich gerade fühlte.
Reyn nickte. »Ich hasse es, mich mit meinen Gefühlen zu beschäftigen. Kann es nicht ausstehen. Vermeide es nach Möglichkeit.«
»Ich auch!« Konnte ich mich jetzt auf ihn stürzen? Jetzt wo er eindeutig der einzige Mensch auf der ganzen Welt war, der mich wirklich verstand?
»Aber ich weiß auch, wieso es so wichtig ist«, sagte er langsam und drehte einen Heuhalm
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