Entfesselt
zwischen seinen langen starken Fingern.
»Erklär es mir noch mal«, verlangte ich ohne große Begeisterung. Er zögerte nachdenklich. »In meiner Zeit als Anführer meines Clans war meine vorherrschende Emotion ... Wut. Was auch immer geschah, meine Reaktion darauf war immer Wut. Wenn ich wütend war, wusste ich genau, was ich tun musste: etwas erobern. Etwas unterwerfen. Etwas zerstören. Aber nach etwa hundert Jahren der Wut wurde ich irgendwie ... weich und verließ mein Volk für immer. Es dauerte weitere zweihundert Jahre, bis ich erkannte, dass Wut meine beste Waffe ist, um Angst oder Unsicherheit zu verbergen.« Er grinste verlegen. »Nur zweihundert Jahre.«
»Angeber.«
»Auch nachdem ich meine Anführerrolle aufgegeben hatte, kämpfte ich weiter. In praktisch jedem Krieg, den ich finden konnte. Es war eine Erleichterung, meine Wut auf dem Schlachtfeld abzureagieren. Und es half mir, es nicht im normalen Leben zu tun, bei Leuten, die es nicht verdient hatten. Hier habe ich dann gelernt, dass die einzig wahre negative Emotion die Angst ist.« Er sprach sehr leise und seine Stimme wurde beinahe vom Prasseln des Regens übertönt.
»Angst?« Aber Reyn wirkte niemals ängstlich - nur wütend. Oh.
»Jede negative oder leidvolle Emotion entspringt der Angst«, sagte Reyn. »Angst, verletzt zu werden, Angst, etwas zu verlieren, Angst, von jemandem nicht so geliebt zu werden, wie man selbst ihn liebt. Wenn ich Angst vor etwas habe, ist das für mich unerträglich. Deshalb werde ich dann wütend.« »Oh - wie an dem Tag, als du mich angeschrien hast, weil ich im Unterricht versagt hatte«, sagte ich, nachdem in meinem Kopf eine ganze Weihnachtsbeleuchtung angegangen war. Er machte ein ernstes Gesicht. »Ich habe Angst, dass dir etwas passieren könnte, wenn du nicht schneller lernst.« Er wirkte schon wieder gereizt und in seinem Kiefer zuckte ein Muskel.
Ich hatte tatsächlich eine Menge Ängste - dass River mich aufgab, dass ich Reyn mehr mochte als er mich, dass Brynne nicht meine Freundin sein wollte. Ich hatte Angst vor Incy und wo immer er hineingeraten war - und dass sein sogenannter Meister wirklich existierte und hinter mir her war. Ich war die einzige Erbin meines Vaters - was, wenn ich total versagte? Was, wenn das alles war, was er bekam? Eine Versagerin, die alles erbte, wofür er gearbeitet hatte, alles, wofür er und meine Mutter gestanden hatten?
Aber da war noch etwas anderes. Zögerlich versuchte ich, dieser speziellen Angst auf die Spur zu kommen.
»Gestern im Laden habe ich gemerkt, dass mein Vorarbeiter ohne mein Wissen mehr Leute eingestellt hat, als wollte er so viele Leute wie möglich auf die Lohnliste setzen - darunter einen Jungen, der ... zurückgeblieben ist und die Baustelle fegt. Ich habe mich nicht über Bill geärgert, denn er versucht nur, Jobs für die Leute zu schaffen, und keiner von ihnen sitzt faul herum und lässt sich fürs Nichtstun bezahlen. Aber als die Mutter des Jungen kam, um ihn abzuholen, war sie mir so dankbar und hat mir gesagt, wie viel ihm dieser Job bedeutet. Ich habe mich schrecklich gefühlt. Ich wäre am liebsten weggerannt, wollte nichts mehr mit den Läden zu tun haben, wollte keinen von den Leuten jemals wieder sehen.«
Reyn nahm meine Hand und seine Wärme und Stärke gab mir das Gefühl, sicher und geborgen zu sein.
»Und gerade eben, als sich alle so für mich gefreut haben, gesagt haben, dass ich aufblühe und so - das will ich nicht hören. So was sollen die nicht sagen. Ich mache das blöde Projekt und sie sollen gefälligst nicht dauernd darüber reden, verstehst du?« Meine freie Hand krallte sich in ein Strohbüschel. Ein kleiner dreieckiger weißer Kopf tauchte an Reyns Seite auf und ich fuhr vor Schreck zusammen.
»Mein Gott, ist der Hund die Leiter hochgestiegen?« Das war total abartig.
»Was machst du für Sachen, mein Mädchen?«, murmelte Reyn und hob Dufa auf seinen Schoß. Sie leckte ihm schläfrig übers Kinn, rollte sich zusammen und schlief sofort ein. »Die Leiter ist wirklich steil«, stellte ich fest. »Und die Sprossen sind weit auseinander.«
»Sie ist schon was Besonderes«, verkündete er mit einem stolzen Lächeln.
»Sie ist ein verkappter Affe.«
Es hatte noch nie jemanden gegeben, der so wunderschön aussah, wenn er lächelte, dachte ich und fühlte mich vor lauter Sehnsucht ganz benommen.
»Aber zurück zu dir«, sagte er und streichelte den kleinen
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