Entfesselt
»Hatte die Beschwörung den Fluch nicht auslöschen müssen?«, fragte Amy.
»Vielleicht nicht«, gab River zu, die ziemlich geschockt wirkte. »Wir haben die Beschwörung so geschaffen, dass sie das Böse abwehrt und alles und jeden vor bösen Flüchen schützt, und zwar von dem Moment an, als wir den Zirkel aufhoben. Ich kann nicht fassen, dass ich nicht daran gedacht habe, auch einen rückwirkenden Schutz einzubauen. Wenn unsere Pflanzen also bereits verflucht waren, hätte unser Zirkel nichts dagegen tun können.«
Also jetzt wäre ich gern ins Bett gegangen und dort geblieben. Für die nächsten paar Wochen.
Doch wie sich herausstellte, war nicht einmal mein Bett der tröstliche Zufluchtsort, den ich so dringend brauchte. Mitten in der Nacht wurden wir durch blaue Blinklichter, Sirenen und ein Megafon geweckt, das uns befahl, langsam und mit erhobenen Händen herauszukommen. (Ja, ehrlich, das sagen die wirklich.)
Ich saß im Bett, fragte mich noch halb im Schlaf, was eigentlich los war, als Reyn hektisch in mein Zimmer gestürmt kam. »Was ist los?«, fragte ich, plötzlich hellwach. Ich schnappte nach meiner Jeans und zog sie über die lange Unterhose, in der ich gewöhnlich schlief.
»Dir fehlt nichts«, murmelte er und fuhr sich mit der Hand durch die Haare, die ohnehin schon in alle Richtungen abstanden.
Draußen heulten die Sirenen und ich musste an die armen Farmtiere denken, die vor Angst bestimmt fast ausflippten. »Was ist los?«, wiederholte ich. Ich schlüpfte in meine Hausschuhe, während meine Freunde bereits an meiner Tür vorbei zur Treppe strömten. Dann waren wir auf dem Flur und hasteten nach unten, während draußen immer noch jemand in sein Megafon blökte, dass wir herauskommen sollten. Es war wieder wie im Zweiten Weltkrieg und ich spürte, wie angespannt und verstört wir alle waren.
»Brennt es irgendwo?«, fragte Anne und schnupperte in der Luft herum.
River öffnete langsam die Haustür. Über ihre Schulter konnte ich die sechs oder sieben Polizeiwagen sehen, die direkt vor dem Haus auf dem Rasen standen. Hinter jedem stand ein Polizist und richtete sein Gewehr auf uns.
River schützte ihre Augen vor den Suchscheinwerfern und trat hinaus auf die Veranda. Wir alle folgten ihr und wollten die Eingangsstufen hinuntergehen, bis uns ein Polizist zurief, dass wir sofort stehen bleiben sollten.
»Wem gehört dieses Anwesen?« Ein Mann in Zivil trat vor. Er trug eine kugelsichere Weste unter der offenen Jacke. »Mir«, sagte River gelassen. »Ich bin River Bennington.« Der Mann kontrollierte etwas auf einem Klemmbrett und sprach mit einer Frau, die aus einem Zivilfahrzeug ausstieg. »Wer lebt hier sonst noch?«, fragte der Mann.
»Meine Lehrerkollegen und Schüler«, sagte River.
Mehrere Beamte öffneten ihre Wagentüren und wir hörten aufgeregtes Gebell. Die Hundestaffel. Das war so unsinnig, dass ich gar nichts mehr verstand.
»Wie viele Leute sind zurzeit hier?« Der Mann schaute wieder auf sein Klemmbrett.
»Zwölf von uns leben hier«, sagte River. »Und wir haben fünf Gäste.«
»Sind alle hier draußen?« Der Mann sah uns an, als würde er durchzählen.
River drehte sich um und zählte uns ebenfalls. »Ja«, sagte sie. »Es sind alle hier. Können Sie mir bitte sagen, worum es geht, Officer?«
»Wir haben einen Hinweis bekommen, dass Sie Personen gegen ihren Willen hier festhalten«, sagte der Mann barsch. »Dass Sie sie als Geiseln halten. Der Anrufer hat auch mindestens einen Mord gemeldet und gesagt, die Leiche wäre auf dem Anwesen vergraben.«
River war wie vor den Kopf geschlagen - sie begann zu schwanken und Asher musste sie stützen. »Was? Wer hat das gemeldet? Das ist doch lächerlich!«
»Tut mir leid, aber wir müssen alles durchsuchen«, sagte der Mann, dem es offenkundig kein bisschen leidtat.
River sank auf die unterste Treppenstufe der Veranda, als könnte sie sich nicht länger auf den Beinen halten. Drei Hundestaffeln begannen mit der Suche; eine im Haus, die zweite im Garten und die dritte hinter dem Haus, wo die Stallungen waren.
Wir anderen setzten uns auch hin und bei einem Wettbewerb um das geschockteste Gesicht wäre es wohl jeder Jury schwergefallen einen Sieger zu ermitteln.
»Das ist doch lächerlich«, sagte ich und wiederholte damit unbewusst Rivers Worte. »Wer behauptet denn solchen Schwachsinn?«
»Ich weiß es nicht.. River hatte in der Hektik nur eine
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