Entfesselt
Laden wurde am nächsten Tag an eine Frau vermietet, deren Mann Gitarren und Geigen reparierte - sie wollte seinen ganzen Kram nicht länger im Haus haben. Sie selbst machte einfache Schneiderarbeiten, wie etwa Ärmel und Hosenbeine kürzen, und wollte ihre Nähmaschine in einer Ecke aufstellen, damit sie den Laden gemeinsam nutzen konnten.
Drei neue Geschäfte an der Hauptstraße dieses verschlafenen Kaffs. Schon jetzt kamen Leute vorbei, um sich nach dem Einkauf bei Pitson's oder Early's alles anzusehen. Ray und Tim waren kurz davor, ihren Coffeeshop zu eröffnen, und wenn diese Woche noch der Inspektor von der Lebensmittelüberwachung sein Okay gab, konnte es losgehen.
Brynne kam jetzt jeden Tag zum Helfen. Sie trug ihren ältesten Overall und ein buntes Tuch über ihren Korkenzieherlocken. Sie hatte sich dem Malertrupp angeschlossen. Und auch wenn sie es nicht immer schaffte, im selben Raum oder wenigstens in derselben Wohnung zu arbeiten wie Joshua, war sie doch zumindest in seiner Nähe.
Eines Tages aßen sie, Meriwether und ich zusammen zu Mittag. Wir lachten über irgendwas und da wurde mir bewusst, dass wir vermutlich aussahen wie drei ganz normale Teenager, die sich ihr Essen teilten. Wie drei Freundinnen. Das war ein interessantes Gefühl. So merkwürdig alltäglich.
Natürlich waren zwei von uns Unsterbliche, die versuchten, ihre dunkle Vergangenheit hinter sich zu lassen. Aber davon abgesehen konnten wir durchaus ganz normale Freundinnen sein.
Die ganze Zeit über vergaß ich jedoch nie, dass Innocencio immer noch verschwunden war.
Aus Anfang März wurde Mitte März, ohne dass irgend etwas Beunruhigendes oder Merkwürdiges geschah. Der Frühling kam unaufhaltsam näher; überall blühten Forsythien, die Weiden trugen flauschige Kätzchen und die Zaubernuss zeigte ihr gelbrotes Gewand. Diese Frühlingsboten weckten in mir die Sehnsucht nach wärmeren Tagen und vielen Stunden Sonnenschein. Ottavio kam in der zweiten Märzwoche zurück. Während seiner Abwesenheit war das Leben in River's Edge wesentlich angenehmer gewesen - stressfrei war es allerdings nicht, denn Reyn und Joshua knurrten sich immer noch an und Daniel nervte uns alle mit seinen Spartipps und den Geschichten über die unzähligen Vermögen, die er im Laufe seines Lebens gemacht hatte. An Rivers Stelle hätte ich ihm befohlen, endlich den Schnabel zu halten, aber vielleicht tat sie es nicht, weil sie sie sich immer noch schuldig fühlte, vor rund tausend Jahren seine Ermordung geplant zu haben.
Als ich eines Morgens nach unten kam, wo Ottavio gerade den Tisch deckte, verknotete sich sofort mein Magen. Er schaute auf und seine schwarzen Haiaugen schienen mich förmlich zu durchbohren. Ich bedachte ihn mit einem strahlenden Lächeln und setzte mich auf die Bank.
»Ottavio!« Roberto küsste seinen großen Bruder auf beide Wangen, während Rachel die Schale mit der Hafergrütze auf die Anrichte stellte.
Ich wusste schon jetzt, dass er das Frühstück dazu nutzen würde zu erzählen, was er herausgefunden hatte, und dass er daraus den folgenden Schluss ziehen würde: »Die Welt fliegt uns um die Ohren und das ist alles Nastasjas Schuld.«
Mit siebzehn Personen war es sehr eng am Esstisch und wir mussten dicht zusammenrücken. Mit bewundernswerter Zielstrebigkeit hatte sich Brynne neben Joshua gesetzt und berührte ihn jedesmal ganz unauffällig, wenn sie sich etwas zu essen nahm. Sie beugte sich vor und Joshua starrte in ihre karamellfarbenen Strähnchen, die nur fünf Zentimeter von seiner Nase entfernt waren. Er blinzelte ein paarmal und ich hatte das Gefühl als würden Brynnes Verführungskünste endlich Wirkung zeigen.
»Obwohl das Etablissement mit dem Namen Miss Edna offenbar nicht mehr existiert«, begann Ottavio pompös, »fand ich ein oder zwei Personen, die davon gehört hatten. Sie wollten jedoch nicht darüber sprechen. Sie wirkten nervös, sogar verängstigt, und weigerten sich, etwas zu sagen.«
Was bestimmt nichts mit seiner einnehmenden Art zu tun hatte, dachte ich verdrossen, spießte ein Würstchen auf und legte es auf meinen Teller.
»Ich weiß, dass du mit Tallis gesprochen hast. Hast du auch Tante Marie getroffen?«, fragte River ihn nach einem ihrer alten unsterblichen Kontakte.
»Ich habe mit ihr gesprochen - sie hat beunruhigende Gerüchte über Terávà-Magie gehört, sehr große und gefährliche Magie. Sie war in England, um nach ihrer Familie zu sehen.«
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