Entfesselt
den Karton.
»Fühlst du etwas?«, fragte ich leise.
Sie öffnete die Augen und runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht. Ich denke nicht. Ich -« Sie schüttelte den Kopf. »Aber dennoch - macht es dir etwas aus, es hier vor mir auszupacken? Nur für den Fall, dass es nicht ... gut ist?«
»Nein, natürlich nicht«, versicherte ich ihr. »Ich hoffe, dass es Schokolade ist. Ein Snickers-Vorrat für die nächsten Monate.« Der Geruch traf uns schon, als ich das Klebeband aufschnitt. Verwundert schob ich etwas zerknülltes Zeitungspapier zur Seite und dann -
Es dauerte ein paar Sekunden, bis mein Gehirn kapierte, was ich da sah. Das war doch Incy? Incy in einem Karton? Was? »Heilige Mutter«, sagte River mit rauer Stimme.
Dann machte es Klick und ich begriff, dass es Innocencios Kopf war, in einem Paket, das mir zugeschickt worden war. Jemand hatte mir seinen Kopf geschickt.
Meine Hände rasten von dem Karton weg, als stünde er in Flammen, und ich taumelte rückwärts. Die Erkenntnis traf mich wie Schrotladungen: Das ist Incys Kopf, das ist Incys Kopf, also muss er tot sein, Incy ist tot und jemand hat mir seinen Kopf geschickt -
Das war zu viel. Mein Verstand schaltete sich ab. Ich starrte River an, deren Gesicht am Ende eines langen schwarzen Tunnels immer undeutlicher wurde. Ich bekam nicht einmal mehr mit, wie ich fiel.
Jemand hielt meine Hand. Nein, jemand tätschelte energisch meine Hand. Jemand hielt meinen Kopf und strich mir übers Haar. Ich lag auf einer harten Oberfläche. Mein Kopf tat weh, als hätte ich ihn mir irgendwo angeschlagen.
»Liebes.« Rivers Stimme. »Mein armer Schatz.«
Ich schluckte. »Was?« Ich musste mich konzentrieren, bevor es mir gelang, die Augen zu öffnen und all die besorgten Gesichter über mir wahrzunehmen. Rachel und Lorenz waren
dabei, noch in den Küchenschürzen. »Was ist passiert?« Meine Stimme war nur ein Krächzen.
Dann kam die Erkenntnis zurück wie ein Güterzug, der frontal auf mich zuraste und neues Entsetzten auslöste. Ich riss die Augen weit auf und starrte River an. »Oh mein Gott. Oh nein.«
»Doch, Liebes«, sagte sie traurig. »Es tut mir so leid.«
»Oh Gott.« Ich versuchte, mich aufzusetzen. Roberto kniete neben mir und legte mir einen Arm um den Rücken. Hektisch kämpfte ich mich auf die Füße, musste aber feststellen, dass meine Knie ganz weich waren.
Mit der Hand vor dem Mund atmete ich tief ein und aus. Ich suchte unter den Umstehenden nach Reyn oder Brynne, aber die beiden hatten dieses grauenhafte Ereignis verpasst. »Oh Gott.«
»Es tut mir so leid, Liebes«, wiederholte River.
»Wo ist es?« Meine Stimme brach.
»Auf dem Tisch«, sagte River.
Ich schluckte. »Ist es ... echt?«
»Ja, Liebes. Ich fürchte, Innocencio ist tot.«
Das ergah keinen Sinn. Mein Gehirn drohte erneut, sich abzuschalten. Ich war zittrig, meine Sinne standen unter Starkstrom und in den Ohren hörte ich ein schrilles Klingeln. Ich ging auf den Karton zu.
»Liebes, meinst du nicht-«, begann River und legte mir die Hand auf den Arm.
»Ich muss es sehen.« Vielleicht war es nur Attrappe. Vielleicht waren wir alle getäuscht worden.
Wären meine Nerven nicht so angespannt gewesen, hätte ich mich sicher übergeben, als ich eine zitternde Hand zum Karton ausstreckte. Und da war es wieder. Innocencios wunderschönes, unnatürlich attraktives Gesicht. Ich hatte es die letzten hundert Jahre fast jeden Tag gesehen. Er sah aus, als würde er schlafen.
Aber auf der Plastikfolie im Karton befand sich getrocknetes Blut und bei dem Geruch wurde mir übel. Ich hatte natürlich schon abgeschlagene Köpfe gesehen. Bei meiner eigenen Familie. Später dann während der Französischen Revolution. Und als ich Incy das letzte Mal gesehen hatte, war der Kopf meiner Freundin Katy über einen schmutzigen Lagerhausboden auf mich zugerollt. Weil Incy ihn abgeschlagen hatte.
»Vielleicht hat Innocencio Louisette nicht getötet«, murmelte Asher und River sah ihn an. »Vielleicht hat jemand Louisette getötet und Innocencio entführt, um ihn dann auch zu töten.« Noch tiefere Trauer erfüllte Rivers Augen. »Ja, kann sein. Das wirft aber auch ein paar neue Fragen auf.« Sie kam zu mir und legte mir einen Arm um die Schultern. »Es tut mir so leid. Möchtest du dich eine Weile hinlegen? Wir können dir eine Tasse Tee bringen.«
Beinahe hätte ich hysterisch losgeprustet, denn ich musste wieder
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