Entfesselte Energien (Band 1)
Was sagst du dazu?“
Tess fühlte, wie die Augen des Vaters sie bis ins Innerste durchforschten. „Das ist eine sehr schwere Entscheidung Vater, die ich mir lange überlegen muss.“
Der Baron winkte energisch seiner Gattin ab, die durch die kaum handbreit geöffnete Türe ins Zimmer lugte. Es war kein Zweifel, sie hatte während der ganzen Zeit draußen gelauscht. Als die Mutter sich zurückgezogen hatte, fragte der Vater leise, aber sichtlich in großer Spannung: „Wie lange willst sich meine Tochter bedenken?“
„ So lange – hm – bis ich Gewissheit habe, dass Graf R-S es ernst meint, dass es nicht nur eine vorübergehende Laune ist.“
„ Traust du ihm nicht?“
„ Es kommt mir ein bisschen plötzlich, muss ich sagen; er hat mich doch gestern zum ersten Mal gesehen. Überhaupt – kann man jungen Leuten von heute noch trauen?“ Tess sagte dies mit einem feinen, fast spitzbübischen Lächeln; gerade dies waren die Worte, die der Vater selbst so oft gebraucht hatte.
Fast musste jetzt auch er lächeln über die Gewandtheit und liebenswürdige Frechheit der Tochter. Es ging ihm gewaltig gegen den Strich, dass sie dieses glänzende Anerbieten nicht augenblicklich annahm, aber ihr Vorhaltungen zu machen, in diesem Augenblick, war unmöglich. Ja , dazu fehlte ihm vielleicht sogar ein wenig der Mut; dieses Mädel war gewaltig gerüstet und sehr schnell im Zuschlagen. Gut dachte er, dass es so ist! Es wird ihre Waffen noch brauchen können in der großen Welt. In dieser neuen Zeit! In tiefen Gedanken wandte er sich ab und verließ den Raum.
Aus einer anderen Türe huschte Tess hinaus, nachdem sie dem Vater noch einen innigen, Verzeihung heischenden Blick nachgesandt hatte.
Kurz darauf stürzte Tessis Bruder ins Zimmer, auf seinen Fersen folgte ihm die Mutter.
„ Ja, was ist denn das jetzt?“, fragte Ulli, „wo ist denn die Tess?“
„ Ja, wo isch das Kind ?“, rief die Mutter entsetzt. „ Der Graf kanns doch gar net erwarte! “
Tess , die diese Worte noch gehört hatte, kehrte sofort in das Zimmer zurück.
„ Gott sei Dank, da isch se no!“, rief die Mutter aus vollem Herzen.
Tess kam heran und flüsterte der Mutter etwas ins Ohr, einige ruhige Worte, die aber nicht geeignet schienen, ihre Unruhe zu dämpfen. Die Mutter trat von einem Fuß auf den anderen und machte einige Male vergebliche Ansätze, der Tochter in die Rede zu fallen. Dann platzt’s sie heraus: „Aber der Graf will dich doch sprechen.“
„ Ich will ihn jetzt nicht sehen, Mama.“
Die gute Frau stand ratlos da. „Aber er will doch – dir …“ Tess schüttelte ernst den Kopf.
Die Mutter neigte sich förmlich vor, als könnte sie es nicht fassen . Sie wollte einen entsetzten Ausruf tun, der Mund öffnete sich schon, da erhaschte sie von draußen ein Geräusch. – Jäh wandte sie sich zur Türe und stürzte hinaus.
Der Bruder, der unschlüssig im Zimmer auf und abgegangen war, blieb jetzt vor Tess stehen und raunte ihr kameradschaftlich zu: „Willst du ihn nicht?“
Tess schüttelte heftig den Kopf.
„ Aber warum denn nicht Tess?“
„ Einen komischen Geschmack traust du mir zu, Bruder!“
„ Den Grafen nicht?“ Er schüttelte verständnislos den Kopf. „Diesen ganz ungewöhnlichen Menschen?“
„ Ich finde ihn furchtbar.“
„ Aber Tess! Einen der ersten Kavaliere des Landes! Aus solchem Adel! Keine Königstochter bräuchte sich zu schämen.“
„ Ach, geh doch fort!“
„ Tess, wenn ich du wäre …“
Tess trat nahe vor den Bruder hin. „Würdest du dich für dein ganzes Leben an den Kerl ketten?“
„ Kerl??“
„ An den Idioten!“
Ulli riss die Augen bis zu unmöglicher Weite auf, als er sprachlos und vollkommen niedergeschmettert der Schwester nachsah, die wie ein Wirbelwind aus dem Zimmer stürmte.
Am Abend ging Tess noch einmal zur Großmutter, zu ihrem ‘‘Orakel’’. Sie musste sich’s von der Seele sprechen, sie musste beichten. Ach die Großmutter wusste es schon und sie verstand ihre Nöte. „Ich will noch einmal mit Wolf-Dieter sprechen, Kind.“ Das waren herzliche Worte, tränenden Auges dankte Tess und ihren tiefsten Hofknicks machte sie beim Abschied. Und dann stracks zum Turmzimmer hinauf, um das fertige Gepäck herunterzuholen. Unten ließ sie den kleinen Opel vorfahren. Der Chauffeur ihres Vaters machte böse Augen, als Franz, der Jägerbursch den Wagen aus der Halle fuhr. Und die Mägde am Küchenfenster tuschelten, als das gnädige Fräulein ihre
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