Entfesselte Energien (Band 1)
Handkoffer eigenhändig an den Wagen trug.
„ Habt ihr das gesehen?“, sagte jemand hinter ihnen, „sie schäkert mit dem Franz!“
Die Mägde wandten sich kurz um und sahen den Gärtner an das andere Fenster eilen.
„Na. Lass sie doch!“, kicherte die eine.
„ Geht’s dich was an?“, gab die andere dem hinkenden Alten drauf.
Auf ihr Fräulein ließen sie nichts kommen.
„Na ja, ich meine ja nur“, beschied sich der dunkle Krauskopf. „Aber der Alte dürfte es nicht sehen!“, fügte er leise hinzu.
Noch jemand trat in diesem Augenblick an das zweite Küchenfenster und sah mit spitzer Nase über die Schulter des Gärtners hinunter. Das alte Fräulein, das in irgendwelcher verwandtschaftlichen Beziehung zu den Rechbergs stand und im Hause das Gnadenbrot aß, fuhr entsetzt zurück. „Sie pflanzt sich neben ihn! Hat man je so was gehört! – Sitten haben die jungen Leute von heute! O Gott!“
In der Tat verschmähte Tess den ihr gebührenden Hintersitz und richtete sich mit ihren Decken und Fußhüllen neben dem lustigen Franz häuslich ein. Ja, sie legte sogar – am Küchenfenster erstarrten sie – dem ‘‘Franze’’ eigenhändig und mütterlich eine Decke über die Knie. Dann fuhren sie ab, noch lange verfolgt von guten und bösen Augen, von entsetztem Stöhnen und frohem Gelächter.
Als sie aus dem Parktor fuhren und das freie Feld gewannen, ließ Tess halten und setzte sich selbst ans Steuer. „Jetzt sag mir Franze, wie es mit deinen chemischen Studien steht! Hast du dich in meinem Buch schon tüchtig umgesehen?“
„ O, ich hab’s durch!“
„ Das ganze Heft?“
„ Ja, bis auf die Formeln.“
„ Die verstehst du noch nicht?“
„ Nicht so ganz Fräulein Marie-Therese, die müssen sie mir noch einmal erklären.“
„ Im ersten Brief, Franz! Wenn du nicht mehr den schrecklichen Namen gebrauchen willst!“
„ Nein – Tess!“ Die Zähne blitzten, aber die Wangen wurden doch ein bisschen rot.
Eine Weile lachte Tess still vor sich hin, dann, plötzlich ernst werdend, wandte sie sich dem Kameraden wieder zu. „Nimm’s ernst, Franz! Die Chemie kann dir die Wege bahnen zu den höchsten Stellen. Schon, wenn du Forstmann werden willst.“
„ Ich will’s nicht mehr. Mein Onkel meinte, mit meinem Abitur sollte ich doch lieber studieren.“
„ Dann noch viel mehr, du! Auf der Chemie und den Grenzgebieten zur Physik und zur Biologie hin ruhen alle unsere Zukunftshoffnungen.“
Franz sah sie groß an. „Erzählen sie mir mehr, Tess!“
Tess überlegte. „Ja! – Kannst du nicht mal nach Tübingen kommen? Unter irgendeinem Vorwand?“
Die hellblauen Augen strahlten auf. „Darf ich sie in der – Universität …“
„ Im chemischen Institut! Da könnte ich dir manches zeigen, viel besser, als die Bücher es dir sagen können.“
„ Ja, dann müsste ich nur erst …“
„ Was denn?“
„ Mir noch etwas Geld sparen.“
„ Ja! Nichts mehr ausgeben für solch Trödel wie die Spielhahnfeder da!“
Der Bub wurde rot.
„Alles anlegen für das eine Ziel!“
„ Von heute an spare ich, ich verspreche es ihnen.“
Tess lächelte ihm zu und achtete eine Weile nicht auf den Wagen, der sich stark nach der linken Seite der Landstraße hinwandte. Von hinten her erscholl in diesem Augenblick ein Motorengeräusch und starkes Hupen. Tess fuhr zusammen und riss das Steuer nach rechts herum. Kurz darauf überholte sie der andere Wagen, verlangsamte aber während des Überholens offensichtlich sein Tempo. Etwas scheu lugte Tess hinüber – war es die Polizei? Nein. Gott sei Dank, wollte sie sagen, verstummte aber jäh und kehrte sich mit einem Ruck ab zu dem Kameraden.
„ Sie sind ganz blass geworden“, flüsterte Franz ihr zu.
„ Und du bist rot geworden! – Kennst du den?“
„ Der da vorbeifuhr? Leider ja!“
„ Hat er dich einmal …“
„ Beleidigt, ja!“
„ Dieser Graf R-S? – Erzähl’s mir, Franz!“
Franz schüttelte böse den Kopf. „Er hat auch sie beleidigt. Der da!!“
„ Meinst du – eben?“
„ Ja, eben! Haben sie gesehen, wie er den Chauffeur in den Arm kniff, während er sich aufrichtete?“
„ Er sollte langsam fahren?“
„ Ja, damit der Herr Graf hier herüber spionieren konnte. Er wollte sehen, mit wem sie da fuhren.“
Tess wurde nachdenklich. „Du könntest recht haben“, sagte sie leise vor sich hin.
Zwischen den beiden wurde nun nur noch wenig gesprochen. Nach einer Weile hielt sie an und gab das Steuer wieder an den
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