Entfesselte Energien (Band 1)
Kameraden ab.
„ Komm bald!“, sagte sie mit Bedeutung, als sie sich in Tübingen trennten. Tess wurde nachdenklich. „Du könntest recht haben“, sagte sie leise vor sich hin.
2. Kapitel
Es war früher Morgen. In eiligem Schritt rannten die Studenten durch die Straßen der alten Stadt, zerschlugen sich in einzelne Gruppen und strömten den Instituten zu. Eine beträchtliche Anzahl wogte durch die Nauklerstraße, in das chemische Institut, in dem Herr Geheimrat Prof. Dr. Nestorius seine Vorlesung hielt. Chemiker, Mediziner, Pharmazeuten und Botaniker, alle eilten – pflichtschuldigst, nicht gern – in diesen wenig geräumigen Hörsaal, in dem man eng zusammengedrängt hocken musste. Es gab immer einen kleinen Kampf um die Plätze, ganz abgesehen von anderen Verdrießlichkeiten. Aber man durfte diese Vorlesung nicht versäumen, denn der Herr Geheimrat nahm es sehr genau; er kontrollierte die Beteiligung. Auch war er als Examinator gefürchtet. Niemand hatte es je gewagt, ihm anders zu nahen als mit tief gebeugtem Rücken. Scherz und fröhliches Geplauder wurde in diesem Gebäude nicht gehört.
In solcher Atmosphäre gedeiht die Kameradschaft nicht gut. Unpersönlich, wie der Herr Geheimrat, weit über die Köpfe seiner Zuhörer, die schwierige Materie vortrug, ebenso unpersönlich, ja feindlich war der Ton, in dem sich der Verkehr zwischen den Studenten abspielte. Man neidete sich die Plätze, man wachte argwöhnisch über die wenigen freundlichen Worte, die der Geheimrat bei zufälligen Begegnungen dem und jenem gewährte, man gönnte sich nicht die Erfolge im Examen – wenn sie einmal errungen wurden und noch ängstlicher hütete man das Geheimnis einer guten Stellung, auf die man Aussicht hatte – oder zu haben glaubte.
Dass die Dame n in diesem Hörsaal geringes Ansehen genossen, stimmte durchaus zu dem übrigen Unerquicklichen, das mit diesem sonst sehr hellen und freundlichen Institut verknüpft war. Man hielt es für sehr überflüssig, dass das weibliche Geschlecht noch weitere Plätze im Hörsaal und später im Leben für sich beanspruchte. Es kam noch hinzu, dass die Damen, die sich diesem Studium widmeten, selten noch die weiblichen Reize aufwiesen, die eine ritterliche Haltung erzwangen, ja, sie eigentlich erst möglich machten.
Als Marie-Therese, Freifräulein von Rechberg-Leudelfingen vor Jahresfrist zum ersten Mal in dieses Institut kam, mag sie sich gefühlt haben wie ein junger Rekrut im Weltkrieg, der gleich am ersten Tage seines Frontdienstes in die Hölle geschickt wurde. Man hatte Tess in Bekanntenkreisen vor dieser Vorlesung gewarnt, dringend gewarnt. Sie war doch hingegangen, vielleicht, weil sie zuhause gelernt hatte, dass man mit den Erfahrungen der früheren Generation heute in der Regel nicht mehr viel anfangen kann. Das Leben hatte seit einigen Jahren ein so durchaus anderes Gesicht bekommen, dass man ganz von vorne anfangen musste, wenn man es verstehen wollte.
Sie dachte an jene erste Zeit nicht gerne zurück, an die Niederlagen, die man einstecken, die man in sich hinei nfressen musste. Wem hätte man’s sagen können! Das Ganze musste ja geheim bleiben. Warum sie nicht alles Hinwarf? Sie wusste es heute selbst nicht mehr. Vielleicht, weil sie spürte, dass man dort Kräfte gewann, die sich nirgends sonst entfalten konnten. Und die Kräfte kamen und man schlug Schlachten und schaffte Durchbrüche. Dem Naseweis gab sie eine Zurechtweisung in aller Formvollendung, die man in den heimischen Salons gelernt hatte. Bei dem genügte ein flammender Blick, wie er in diesen Räumen noch nicht gesehen worden war. Einmal, als ein besonders Kecker eine anzügliche, nicht ungewandte Bemerkung sich erlaubte, fuhr sie ihm über den Schnabel mit einem ganz derb herausgeschnaderten: „Quatsch doch nicht andauernd!“ Mehr und mehr gewann sie an Boden; einmal fing sie mit ihrem scharfen Ohr eine Warnung auf, die ein älteres Semester an einen jungen Fuchs richtete: „Die lass in ruh, mein Lieber! Wenn dir an meinem Rat etwas gelegen ist.“ Das schien allgemein die Stimmung geworden zu sein, sie ging, wo sie sich auch zeigte, wie der Prinz durch geöffnete Dornenhecken.
Einmal noch v ersuchte ein sehr patenter Herr sie durch einen Wortschwall zu düpieren, wie es schien, infolge einer Wette. Er setzte die Worte gewandt und redete wie ein Wasserfall. Aber das war zu einer Zeit, als sie sich schon längst einen undurchdringlichen Panzer
Weitere Kostenlose Bücher