Entfesselte Energien (Band 1)
sollte sie eilen! – Ich hätte sie ja einholen können, aber ich wollte nicht. Warum schickten sie mir die Bayern? Ausgerechnet diesen schrecklichen Quanz, der rohes Gehacktes isst und mit Zwiebel bestreut! Der vielleicht gar nichts Besseres kennt als einen dicken ‘‘Radi’’ und ein paar – nein, recht viele Maas. Neumeier ist ja ein guter Kerl, aber langweilig ‘‘bis dorthinaus’’. Nee, mit den beiden zurückkehren. Ein paar Hundert Meter weit ihnen ausgeliefert sein! Und dann von einer grölenden Bande empfangen zu werden!
„ Und denen habe ich einen Kuss angeboten! Um Gotteswillen, wenn ihn der zwiebelduftende Quanz sich verdient hätte! Oder der dicke, ewig schwitzende Wedekamp. – Siehst du, Tess, was Vater dir immer vorgehalten hat: ‘‘Du hast keine Selbstbeherrschung, der Gaul geht mit dir durch. Und dadurch verdirbst du’s mit deinen besten Freunden.’’
Tess wurde noch jetzt rot, wenn sie an den Blick dachte, den Riemenschneider heimlich dem kleinen Korrens zuwarf. Die beiden hatten über sie gesprochen; Korrens hatte sie verteidigt – gegen Riemenschneider! O Gott, alles ist aus. Wäre ich gar nicht mitgegangen! Da Franz sich den Fuß verstaucht hatte, hätte ich dem Ausflug fernbleiben müssen. Treue um Treue! Aber ich dachte – ich wollte. Ja, was wolltest du denn? Was will ich überhaupt noch in Tübingen?
Tess ging in das Dorfwirtshaus, sie wusste nicht, warum. Nur irgendetwas tun, was nicht damit zusammenhing! Wenn sie einen Bahnhof angetroffen hätte, wäre sie in den erst besten Zug gestiegen, nur um fortzureisen, irgendwohin! Sie ließ sich ein Glas Wein geben und – rührte es nicht an. –Tess! Fast laut rief sie sich an. Was ist mit dir? Wo ist dein froher Mut? Deine Kraft? Deine unverwüstliche Heiterkeit? Bist du denn nicht mehr ganz bei Trost??
„ Und ich bleibe doch in Tübingen. Trotz Pein, Qual und Blamage! Und morgen ist wieder Vorlesung. Und wenn sie mich angrölen – und wenn sie mich auspfeifen, ich gehe in die Vorlesung! Es hat mir mal jemand gesagt, ich sei das größte schauspielerische Talent, das ihm je vor Augen gekommen wäre. Auf diesem – nur auf diesem Gebiet würde ich einmal Erfolge haben. Ich könnte mich in kürzester Zeit in jede Rolle hineindenken. Wenn ich das mal ausprobierte? Eine so einfache Rolle: Still sitzen – nicht rechts, nicht links schauen – nicht allzu viel denken! Nur sprechen, wenn man gefragt wird! Leise und verschämt lachen! Oft unter sich blicken! Weiche, frauliche, keusche Bewegungen annehmen! Zu allen gut sein, keine Witze, keine schnodderigen Bemerkungen machen! Solch eine Lore könnte ich, glaube ich, schon darstellen. Ich werde sie mal ein bisschen studieren. Gleich heute Abend suche ich sie noch auf.“
Mit diesem Vorsatz stand Tess auf und rannte – nicht sehr fraulich – nach Hause zurück. Sie wollte an ihrer Wohnung vorübergehen und schnell noch auf einen Sprung zu Lore hinüberlaufen, da stand sie plötzlich ihrem Auto aus der Heimat gegenüber. Ein jäher Schrecken durchzuckte sie: Sie wollen mich holen! Irgendetwas ist passiert. Alle Vorsätze waren vergessen, im Tempo eines Kurzstreckenläufers, mit wirbelnden Kleidern raste sie ins Haus und die Treppen hinauf. Oben an der Vorgangstüre stand ihr Bruder.
„ Ulli, du??“
„ Ja!“ Stumm reichte er die Hand und zog sie hinein.“ Was ist los, Ulli?“
Erst im Zimmer antwortete er. „Komm, setz dich! Ich muss mit dir sprechen.“
„ Bitte sag es ohne lange Einleitungen, Ulli!“
„ Unsere Schwester Amalie ist gestürzt!“
„ Mit dem Pferd? Gefährlich?“
Ulli sah die Schwester ernst an. Wusste er nicht, wie er es ihr schonend beibringen sollte?
„Ist es so schlimm, dass ich hinkommen muss? Wolltest du mich holen?“
Noch immer zögerte der Bruder mit der Antwort. Dann sprang er auf. „Vater ist – hat?“
„ Was ist mit Vater? Sprich’s doch aus!“
„ Komm!“ Er stand auf und ging aufgeregt nach der Türe.
Tess rannte ihm nach und fasste ihn an der Schulter. „Um Vaters willen kamst du? Sag es doch!“
„ Ja!“
„ Soll ich – sofort mitfahren. Ulli?“
„ Ja! Ich mache den Wagen zurecht.“ Er stürzte – erleichtert, wie es schien, die Treppe hinunter.
Tess sah ihm nach, sie musste sich erst Gedanken machen über den Bruder, besorgt und – enttäuscht, ehe sie sich in aller Hast für die Reise rüstete. Erst unterwegs erfuhr sie, dass Amalie mit schweren inneren Verletzungen im nächsten Krankenhause lag, die
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