Entfesselte Energien (Band 1)
Umständen möglich war, das heißt, sie verteidigte sich überhaupt nicht, sie schwieg. Und als sie die harten Reden so lange über sich hatte ergehen lassen, als es ihren angegriffenen Nerven möglich war, erhob sie sich stumm und ging hinaus.
Schwer und schleppend waren ihre Schritte, als sie über den Flur ging . Sie hatte gesiegt, ja! Aber das war ein Sieg, der nicht froh machen konnte. Über wen hatte sie gesiegt? Über die wenigen ihres Hauses, die noch am Leben waren. Herzlich zusammenhalten sollten sie jetzt alle, das hatte der Vater noch kurz vor seinem Tode der Mutter und dem Bruder zugerufen. Ein quälender Schmerz saß ihr in der Kehle. Plötzlich wandte sie sich jäh um – rief da nicht jemand ihren Namen? So war es schon einmal gewesen, als sie vor 12 Jahren gegen den Vater getrotzt hatte. Schnell war sie damals umgekehrt und hatte den Vater um Verzeihung gebeten und alles war wieder gut gewesen. Aber wen sollte sie heute um Verzeihung bitten. Sie hatte ja gar nichts gesagt. Und was würde es auch helfen! Die Wege waren auseinandergegangen und keine Macht der Welt würde sie mehr zusammenführen. – Aber doch eine war noch da, die auf höherer Warte stand, dessen Wort noch etwas galt, da, wo man sich unten nicht einig werden konnte: die Großmutter. Das war der rettende Gedanke. Noch atmete Tess auf und ging den langen Flur hinaus und um die Ecke herum bis in den Seitenflügel des Schlosses, wo die Großmutter ihre beiden Zimmer hatte. „Nicht mehr bös sein!“, rief sie sich zu auf dem ganzen Wege bis zur Großmutter. „Ruhig, du böser Klopfer da drinnen! Alles will ich ihr sagen, aber dann – muss ich hinnehmen, wie sie entscheidet. – O Gott!“
Zitternd und bleich klopfte sie an die Türe. – „Herein!“, rief eine Stimme, die noch immer fest und hart war. Mit übermenschlicher Gewalt zwang Tess ihr Beben nieder und trat ein.
„ Großmutter!“
„ Wenn du kommst, willst du etwas von mir?“
Tess schluckte und nickte und kauerte sich zu ihren Füßen nieder, wie sie es von Kindheit an getan hatte.
Leise strich die alte Frau über die blonden wilden Locken des Mädchens. Eine Weile nickte sie still versonnen vor sich hin, dann raunte sie, sich über den Goldfuchs beugend: „Ich weiß, Kind. Ich weiß alles, was dich drückt.“
Tess griff nach ihrer Hand und drückte sie fest an die heiße Stirne. „Großmutter hilf mir! Ich weiß keinen Ausweg mehr.“
Wieder strich die Gute eine Weile über das blonde Haar. „Ruhig werden Herzchen! Gut sein! An den Himmel denken, an den Vater der alles entscheidet, das Große wie das Kleine.“
„ Wer kennt seine Entscheidung schon!“, klagte Tess leise und verzagt.
„ Er offenbart sie uns tief im Herzen durch unser Gewissen.“
„ Wenn ich die Stimme des Gewissens nur verstände! – Großmutter, noch nie war ich so ratlos wie heute.“
Eine Weile streichelte die Greisin wieder, dann hob sie den blonden Kopf sanft zu sich auf und fragte Auge in Auge: „Hast du’s ihm auf dem Totenbett versprechen müssen? Deinem Vater?“
„ Ich kam nicht mehr dazu. Aber …“
„ Was denn, Kind?“
„ Er wollte mir dies noch sagen – gerade dies!“
„ Und da?“
„ Da brach ich zusammen. Von da ab weiß ich nichts mehr.“
„ Also war es sein Wille, dass du dem Manne folgtest?“
Tess zitterte, als ob es ums Todesurteil ginge. „Großmutter, er kann das nicht gewollt haben, dass ich mein ganzes Leben, an den gekettet, hinschleppen müsste.“
„ Ist er dir so schrecklich?“
Tess stöhnte auf. Sie zeigte an die Stirn. „Nichts! Aber auch gar nichts! Und dann …“
„ Was denn?“
„ Pferde-, Hundewetten und – Weiber!“, schrie Tess heraus. „Alles in der Mehrzahl!“
„ Aber Kind, das letzte Wort deines Vaters!“
Tess sah sie mit tränenverschleierten Augen an. „Großmutter, ich bitte dich! Großmutter! – Kann nicht auch ein Vater mal irren??“
„ Aber der Letzte Wille!“, hauchte die Greisin. „Sollte Gott, der höchste ihm nicht einen Blick gewährt haben in Höhen, in die wir noch nicht hineinschauen?“
„ Eine Offenbarung? O, Großmutter, wenn der Ewige sich ihm offenbart hätte, würde er ihm nicht diesen unreinen, so mannigfach befleckten, jämmerlichen Mann empfohlen haben.“
„ Werde nicht Gotteslästernd, Kind!“ Wieder streichelten die gütigen Hände die heiße, fiebernde Stirn.
Aber Tess machte sich mit einem jähen Ruck los. „Vater hat ja nicht erst in der letzten Stunde diesen Plan
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