Entflammt
nur durch mich durchgegangen ist, verstehst du?«
»Ja«, sagte Anne. »Ich verstehe das.«
»Und dann, kurz bevor Nells Stein explodiert ist, habe ich mich plötzlich an meine Mutter erinnert, wie sie dasselbe Lied gesungen und etwas dabei gemacht hat. Ich weiß aber nicht was.« Noch nie hatte ich mit Absicht jemanden aus meiner Familie erwähnt und wappnete mich gegen die unvermeidliche Flut von Fragen.
Wieder einmal reagierte Anne ganz anders. »Es war eine sehr alte Kraft«, sagte sie. »Sehr stark, wie ich schon sagte. Du bist die einzige Person der Welt, die Zugang zu dieser Kraft hat. Das ist ein gewaltiges und beinahe Furcht einflößendesGeschenk.« Ihre Augen schimmerten in der Dunkelheit und ich hielt den Atem an, weil ich auf das grässliche Abpellen weiterer Zwiebelschichten wartete. Ich war nicht bereit dafür. Noch nicht.
Anne rieb sich die Hände und pustete ihren warmen Atem darauf. »Du weißt, dass Reyn nicht wirklich der Teufel ist, nicht wahr?« Der Anflug eines Lächelns umspielte ihre Mundwinkel.
»Nein, das weiß ich nicht«, sagte ich.
Anne lachte. »Nun, zum einen glauben wir nicht an den Teufel. Nur an das Böse. Es existiert. Wir bekämpfen es jedenTag. Aber der Teufel? Nein.«
»Gut, dann eben ein Handlanger des Bösen«, lenkte ich ein.
Sie nahm eine meiner Hände in ihre. »Ich verstehe, wieso du so empfindest, Nastasja.« Sie klang jetzt sehr ernst.
»Wirklich. Aber du musst bedenken, dass Reyn einfach nur ein Mann ist, wenn auch ein unsterblicher. Was Reyn war, was er getan hat - das war die Kultur, in der er aufgewachsen ist. War er der einzige Krieger, der jemals die Burg deinesVaters angegriffen hat?«
»Er war der Einzige, der reingekommen ist«, erwiderte ich steif. Das Thema tat mir in der Seele weh. Ich wollte nichtdarüber sprechen.
»War seine Horde die einzige, die Dörfer ausgelöscht hat?«, bohrte Anne sanft weiter. »Die Menschen haben schon in der gesamten Geschichte der Menschheit Eroberungen gemacht und einander versklavt. Heutzutage erkennen die Leute das, wissen davon und verabscheuen es. Aber damals gehörte es einfach zum Leben - wie die Pest, wie das Pflügen mit Pferden oder die Tatsache, dass von zehn Kindern sieben starben.«
Ich sah sie an. »Entschuldigst du sein Verhalten?« Meine Stimme war eisig.
»Ganz und gar nicht«, widersprach Anne energisch. »Nicht jeder Mann hat damals dasselbe getan wie er, denselben Weggewählt. Viele andere wollten einfach in Frieden leben, ein Heim und eine Familie haben. Nein, Reyn war ein gewalt—tätiger, machthungriger Krieger, hineingeboren in eine Kultur, in der die Unterdrückung anderer Kulturen die Norm war. Er rebellierte nicht dagegen, lief nicht davor weg. Er lebte den Horror, den Tod, die Dunkelheit. Aber vor fast dreihundert Jahren wählte er einen anderen Weg und ließ seine Waffen und seine Rüstung zurück. Er verließ das Haus seines Vaters und verzichtete auf seinen Führungsanspruch. Seine Leute ächteten ihn, weil er der Dunkelheit und dem Tod entsagte. Seitdem hat er einen anderen Kampf geführt, einen inneren Kampf, gegen seine Natur. Er hat seit diesem Tag immer wieder versucht, dem Bösen das Gute vorzuziehen, der Gewalt den Frieden, dem Tod das Leben.«
Ich erinnerte mich, wie Reyn gesagt hatte, dass der Dunkelheit zu folgen unweigerlich in den Wahnsinn führen und niemals endenden Schmerz nach sich ziehen würde. »Seitdem war jeder Tag für ihn ein schwerer Kampf«, fuhr Anne fort. Wir waren schon am Haus angekommen, standen aber noch draußen in der Dunkelheit und Kälte. »Natürlich gab es Rückschläge. Er hat ein paar Schritte nach vorn gemacht und ein paar Schritte zurück. Er ist in tiefe Abgründe gestürzt und wieder hinausgeklettert. Aber ich weiß - und River ist auch der Meinung - , dass unter all dem ein guter Mann steckt.« Sie sah mich nachdenklich an. »Und ich glaube, du weißt das auch.«
Ich starrte sie entgeistert an - wie konnte sie so etwas zu mir sagen?
Anne klatschte in die Hände und atmete tief ein. »Oh, riechst du den Holzrauch? Ich finde, in einer kalten Nacht riecht nichts so gut wie Holzrauch, meinst du nicht?«
28
Am nächsten Tag hatte ich Frühstücksdienst. Ich verbrannte zwei Pfund Speck. Einen Moment hatte ich noch alles im Griff und briet Speckstreifen wie ein Profi, dann wandte ich mich ab, um ein Blech mit Muffins aus dem Ofen zu holen, und als ich mich wieder umdrehte, war der gesamte
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