Entflammt
zeitlich und räumlich weit entfernt, ein anderes Ich. Und jetzt war ich hier, genau hier, in der Realität, und das war jetzt mein Ich. Ich war nicht mehr dort, nicht mehr dieses Mädchen. Irgendwie hatte ich das bisher nicht kapiert. Vielleicht hatte River damit gemeint, dass die Zeit so etwas wie ein Fluss ist, der sich immer weiterbewegt, und dass man jeden Tag und jede Stunde von ihm weiterbefördert wird. Ich hatte mich mein ganzes Leben lang gefühlt wie in einem See, in dem alles für immer um mich herum treibt. All meine Erfahrungen, die verschiedenen Menschen, die ich dargestellt hatte, alles, was ich gehabt und wieder verloren hatte ... ich trug das alles die ganze Zeit mit mir herum. Es hatte Schicht um Schicht einen Panzer um mich gebildet wie die glänzenden Lackschichten auf diesen japanischen Spanschachteln.
Diese Panzerschicht hatte mein verwelktes, halb totes Inneres abgeschirmt, das längst nicht mehr fähig war, auf irgendwas oder irgendwen normal einzugehen.
Meine Zeit hier - bis jetzt nicht einmal zwei Monate -
streifte eine papierdünne Schicht nach der anderen von meinem Panzer ab. Und mein zusammengekauertes Inneres schien irgendwie aufzuleben. Wie eine halb vertrocknete Blume, die plötzlich Regen abbekommt. Wieso passierte das? Wieso ließ ich es nach so langer Zeit geschehen?
An diesem Tag vor mehr als vierhundertvierzig Jahren lag ich auf der verbrannten Erde, auf der einst die Burg meines Vaters gestanden hatte, und weinte vor Schmerz und Angst. Ich hatte eine Fehlgeburt gehabt, meine einzige Verbindung zu Asmundur und meinem Leben mit ihm. Da war mir klar geworden, dass ich wirklich alles verloren hatte - meine Familie, mein Zuhause, meine Pflegefamilie, meinen Ehemann, mein geliebtes Pferd und jetzt auch noch mein einziges Kind, das gelebt hatte, ohne dass ich es wusste, und gestorben war, bevor ich es bemerkt hatte. Mir war nichts geblieben, ich wusste nicht, wohin ich gehen sollte. Ich war niemand mehr, keine Tochter, keine Ehefrau, nicht einmal eine Freundin. Als ich am nächsten Tag wieder gehen konnte, sammelte ich meine Habe zusammen und setzte mich in Bewegung, nur fort von diesem Ort des Entsetzens, des Todes, des Verlustes. Ich ging, bis ich eine hohe Blattpflanze mit kleinen purpurroten Blüten fand. Ich aß büschelweise davon, würgte die Blüten und die groben Blätter hinunter, obwohl ich sie kaum schlucken konnte. Unsere Waschfrauen hatten unsgesagt, dass Eisenhut tödlich giftig war und dass wir Kinder ihn nie anfassen sollten.
Ich aß so viel davon, wie ich konnte, und spürte schon, wie mir das Gift den Mund verbrannte. Meine Hände wurden taub und ich krümmte mich mit entsetzlichen Bauchschmerzen. Ich weinte und schrie und übergab mich stundenlang, bis ich endlich das Bewusstsein verlor.
Die Ironie war natürlich, dass ich unsterblich war und es nicht wusste. Nachdem mein Selbstmordversuch fehlgeschlagen war und ich nicht mal vernünftig sterben konnte, landete ich schließlich in der größten Stadt, Reykjavik. Dort stellte mich eine Haushälterin als Dienstmädchen ein und ich lernte meine neue Herrin Helgar kennen. Da begann mein neues Leben als Unsterbliche und mein altes Leben endete genauso abrupt, als hätte mich der Eisenhut getötet. Ich hatte mir die erste Panzerschicht wachsen lassen.
»Wenn du das Pferd noch länger bürstest, wird es kein Fell mehr haben.«
Mein Kopf fuhr bei diesen Worten hoch und ich betrachtete Reyns harten, breiten Rücken, als er mit mehreren schweren Sätteln auf dem Arm an mir vorbeiging. Es war Reyn gewesen in dieser Nacht. Er war einer der Angreifer draußen auf dem Flur gewesen. Er selbst hatte niemanden von meiner Familie getötet, was eine Erleichterung war, denn andernfalls hätte ich ihnumbringen müssen, und es ist ziemlich schwer, jemandem den Kopf abzuschlagen. Aber er war in jener Nacht in unserem Haus gewesen. Er war der einzige lebende Mensch, der das Grauen dieser Erfahrung mit mir teilte. Und da stand er, in Jeans und Arbeitsstiefeln. Kein bemaltes Gesicht, kein Schwert an seiner Seite. Nur ein normaler Typ. Ein normaler, mürrischer, humorloser Typ, der vor vierhundert Jahren bei der Auslöschung meiner Familie dabei gewesen war.
Titus hatte tatsächlich schon den Kopf zu mir gedreht, als wollte er sagen: Es reicht!
»Sorry«, murmelte ich, legte die Bürste weg und machte ihn los.
Ich brachte ihn in seine Box, vergewisserte mich, dass
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