Entflammt
jetzt dein Zimmer und du kannst dich einrichten.«
Ich kriegte ein Zimmer? »Ist das hier ein Hotel oder so was?«, fragte ich sie und folgte ihr durch die Haustür in eine Art Eingangshalle. Auf einem runden Tisch stand eine Vase mit getrockneten Ahornzweigen. Eine wunderschöne geschwungene Treppe führte hinauf in den ersten Stock. Alles war weiß, schlicht und elegant. Es war verrückt, aber ich war kaum über die Schwelle getreten, als ich mich auch schon weniger - verängstigt? fühlte. Weniger, ich weiß nicht, verletzlich? Vielleicht bildete ich mir das nur ein.
»Früher war es mal ein Gemeindehaus der Quäker«, erklärte River und ging auf der Treppe voraus. Ich spürte, dass noch andere Menschen im Haus waren, aber es fühlte sich ruhig und friedlich an. »Im siebzehnten Jahrhundert haben hier etwa vierzig von ihnen gelebt und die Farm bewirtschaftet. Ich besitze es seit 1904, natürlich unter verschiedenen Namen.« Die unterschiedlichen Identitäten bedeuteten, dass sie - wie wir alle - verschiedene Rollen gespielt hatte, um ihre dauerhafte Existenz zu verbergen. Man fing als eine Person an, gab vor zu sterben, und tauchte dann als die lange verschollene Tochter dieser Person auf, um das Haus zu erben, und so weiter. Ich glaube, es gibt sogar eine Folge von Raumschiff Enterprise, die sich mit diesem Thema befasst. »Was ist es jetzt, das Haus, meine ich?«
River führte mich einen breiten Flur entlang, bog dann rechts in einen weiteren Korridor ein, der auf einer Seite Fenster und auf der anderen in regelmäßigen Abständen Türen hatte. Sie grinste ein wenig, was sie viel jünger aussehen ließ. »Es ist natürlich ein Heim für gestrandete Unsterbliche.« »Was glauben die Einheimischen, was es ist? «, fragte ich. »Eine kleine, familienbetriebene Bio-Farm, wo man alles über biologische Landwirtschaft lernen kann. Was übrigens auch stimmt.« Sie blieb vor einer Tür stehen, die einem der Fenster genau gegenüberlag. Bernsteinfarbenes Herbstlicht fiel auf die Tür, als River sie öffnete.
Ich sah hinein. »Bio-Ackerbau für Mönche?«
River lachte.
Der Raum war klein und schlicht. Die gesamte Einrichtung bestand aus einem schmalen Bett, einem winzigen Schrank, einem Holztisch und einem Stuhl. Als ich meine Wohnung in London das letzte Mal verlassen hatte, war das Hotel George V in Paris mein Domizil gewesen. Und davor das St. Regis in New York. Ich stehe auf diesen Luxus.
»Nein, nicht für Mönche«, sagte River und betrat das Zimmer. »Nur normale Leute, Unsterbliche, die sich an diesem Punkt ihres Lebens auf andere Dinge konzentrieren wollen. Aber du kannst deine eigenen Sachen gern hier ausbreiten, damit es gemütlicher wird.«
Ich dachte an mein übliches Chaos aus herumliegenden Klamotten, leeren Schnapsflaschen, überquellenden Aschenbechern, Büchern, Zeitschriften, Pizzaschachteln und schüttelte den Kopf: lieber nicht.
»Dann sind hier noch mehr von uns?«, fragte ich und setzte mich probeweise aufs Bett. Sehr gemütlich war es nicht. »Zurzeit haben wir vier Lehrer und acht Schüler«, sagte River. Sie schloss die Tür, lehnte sich dagegen und sah mich ernst an. »Du kannst dir eine Woche lang überlegen, ob du bleiben willst, Nastasja. Ich hoffe, du willst. Ich glaube, dass es dir viel bringen wird und dass du hier wieder glücklich werden kannst, wenn du es zulässt. Aber eines muss dir klar sein: River's Edge ist kein Wellnesshotel. Eher so etwas wieeine Mischung aus Kibbuz und Reha. Hier wird gearbeitet und alle packen mit an. Es gibt Dinge, harte, schmerzhafte Dinge, die du lernen musst. Wir haben im Laufe der Jahre ein System entwickelt, das funktioniert, und was wir gar nicht brauchen können, sind Leute, die herkommen und so tun, als gälten unsere Regeln nicht für sie.«
»A-ha.« Vielleicht würde ich doch nur ein paar Tage bleiben, mir einen Plan B überlegen und wieder verduften?
River lächelte und das sah so warmherzig und freundlich aus, dass ich wünschte, besser in ihr Programm zu passen. Aber das schien bereits jetzt unmöglich. »Wenn es dir nicht gefällt, zwingt dich keiner hierzubleiben. Niemand wird dich dazu überreden, dein Leben zu retten. Schließlich bist du ein großes Mädchen nach wie viel-zweihundert Jahren?«
»Vierhundert«, verbesserte ich . »Vierhundertneunundfünfzig.« Verblüffung blitzte in ihren Augen auf und ich hatte das unangenehme Gefühl, dass sie mich nicht wegen
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