Entflammt
Rattennest erinnerten. Vermutlich sah ich aus wie einbalsamiert oder als hätte ich gerade die Choleragehabt. Meine Klamotten waren irgendwelche Teile, die ich ausgesucht hatte, weil an ihnen zufällig nichts Ekliges klebte. Kurz gesagt, viel schlimmer konnte ich nicht aussehen. Der Wikingergott dagegen war einfach umwerfend mit seiner golden schimmernden Haut, dem kurzen, perfekt verwuschelten Blondschopf und den goldfleckigen Augen in der Farbe des Sherrys, den ich einmal in Georgien getrunken hatte. Er war groß, aber nicht übergroß, stark und muskulös, ohne dass es aussah, als müsste er damit einen anderenMangel wettmachen, mit einem maskulinen Gesicht, das weder zu markant noch zu hübsch war. Seine Nase hatte einen kleinen Höcker und war ein kleines bisschen krumm, als wäre sie mal gebrochen gewesen, und natürlich machte das seine Schönheit noch perfekter, zumindest aus der japanischen wabi-sabi-Sicht von Perfektion. Wo hatte ich dieses Gesicht bloß schon gesehen? Wo auch immer - es raubte mir den Atem.
Er sah aus, als wäre es unter seiner Würde, mir zu helfen, was seine Anziehungskraft leider noch verstärkte.
»Wie heißt du?«, fragte ich und bemühte mich, ungerührt zu erscheinen.
»Reyn.«
Wie? Rain? Reign? Rane? »Ich bin Nastasja.«
»Ich weiß.«
Er war unfreundlich und abweisend. Ich fragte mich, wieso er hier war. War jeder hier so eine verlorene Seele wie ich? Ich wollte die Story von diesem Typen hören. Mit etwas Glück war sie noch schlimmer als meine eigene.
»Okay, danke«, sagte ich knapp, denn seine Art brachte mich irgendwie aus der Fassung.
»River hat mich gebeten, dir zu sagen, dass es um sieben Abendessen gibt.«
Er trat zurück und schloss meine Tür nahezu lautlos. Ich wollte ihn noch fragen, wo es denn das Abendessen gab, aber er hätte vermutlich nur gesagt, dass ich meiner Nase folgen sollte.
Ich ließ mich wieder aufs Kissen fallen, diesmal aber hellwach. Mir schnürte es das Herz zusammen, als ich mir eingestand, dass das hier nicht funktionieren würde. Wenn ich noch einen Beweis gebraucht hätte, was nicht der Fall war, dann hatte ihn mir dieser Reyn gerade geliefert. Diese Leute waren wahrscheinlich durch und durch gut und wollten das Beste aus ihrem endlosen Leben machen. Ich dagegen versuchte nur, der Dunkelheit zu entfliehen, in die alles versank, das ich berührte. Ich versuchte, mich zu verstecken - vor Incy, vor mir selbst, vor meiner Vergangenheit, meiner Gegenwart und sogar meiner Zukunft.
Incy. Ich schauderte und rieb meine Arme in den flauschigen Ärmeln. Inzwischen würde er sich fragen, wo ich steckte. Es verging kaum ein Tag, an dem wir uns nicht sahen, nicht miteinander redeten. Machte er sich Sorgen? Was dachten die anderen von mir? Würden sie versuchen, mich zu finden?
Ich konnte nicht zurück. So viel war sicher. Und ich konnte nicht hierbleiben. Okay. Ein paar Mahlzeiten, ein paar Nächte Schlaf und dann würde ich verschwinden. Von mir war sowieso nicht mehr viel übrig, das zu retten sich lohnte.
4
San Francisco, Kalifornien, 1967
»Komm schon, ich will ein Bild von uns beiden«, rief Jennifer und zupfte am Ärmel meines Kaftans.
Ich warf mir das lange honigblonde Haar über die Schulter. »Klar willst du das.«
Gemeinsam posierten Jennifer und ich auf der breiten Treppe und lächelten in Rogers Polaroidkamera. Im Wohnzimmer unter uns kreischten die Leute vor Lachen. Auf dem teuren Plattenspieler lief »Eight Miles High«. Kerzen und Räucherstäbchen brannten und die neue Lichtorgel warf abgefahrene Muster an die Wände.
Ich sah fantastisch aus, das wusste ich: stark geschminkte Augen im Kleopatra-Look, blasser Lippenstift und ein bunter Seidenkaftan mit Nehru-Kragen, den ich aus Indien mitgebracht hatte. Zur Sicherheit hatte ich mir noch einen PeterMax— Seidenschal um den Hals geknotet. Ich liebte die Sechziger. Die Vierzigerjahre waren so deprimierend gewesen, so grau und selbstaufopfernd. Und die Fünfziger hatte ich gehasst, als alle den stocksteifen amerikanischen Traum kaufen wollten und die Autos raketenförmige Heckflossen in Elefantengröße gehabt hatten.
Aber die Sechziger waren perfekt für uns Unsterbliche, meine Freunde und mich. Alles war möglich, alle waren total verrückt und jeder, der anderer Meinung war oder uns ab— lehnte, wurde als Spießer abgetan. Und die Partys! Das letzte Mal, dass ich in eine solche Party-Atmosphäre eingetaucht war, war auf Long Island,
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