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Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)

Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)

Titel: Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karim Miské
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seltsame Typ, der zwar nichts sagte, aber jedes unserer Worte abzuwägen schien und jede Bewegung genau beobachtete. Nur Moktar war so in Fahrt, dass er nichts wahrnahm. Zwei Nächte zuvor hatte Haqiqi einen ganz besonderen Traum gehabt, der zur Zeit des Propheten in Medina spielte. Eine laszive Frau spazierte durch die Straße und reizte die Männer. Sie lief an der Gruppe der ersten Gläubigen – der frommen Vorfahren – vorbei, die gerade zum Gebet niederknien wollten. Zur Linken der Betenden ging im Westen die Sonne unter. Schließlich beging die Frau eine sehr schwere Sünde: Sie enthüllte sich vor den Augen der gläubigen Männer, bis ihr Kopf, ihre Arme und ihre Brust unbedeckt waren. Die Reinherzigen jedoch hoben die Hände vor die Augen und sprachen die frommen Worte Allahu akbar . Einen Wimpernschlag später war die Frau verschwunden. Dass die Sonne links von den Betern unterging, kann nur bedeuten, dass sich die Szene abspielte, bevor der Prophet anordnete, sich zum Gebet in Richtung Mekka und nicht mehr nach Jerusalem zu wenden. Für Haqiqi war dadurch klar, dass wir, auch wenn es uns merkwürdig vorkäme, die Juden um Hilfe bitten müssten, um zu erfahren, wie wir mit der unreinen Frau umgehen sollten.«
    »Und genau in diesem Augenblick kam ich dazu.«
    Überrascht drehen sich die Frauen um. Hinter ihnen steht Ruben in Jeans und T-Shirt. Seine Schläfenlocken hängen offen herunter. Er hat ein Glas Tee in der Hand.
    »Ich kam dazu, just als Sam zu erklären begann, dass Imam Haqiqi und Rabbi Seror beschlossen hatten, gemeinsam zu handeln, um ihre jeweiligen Gemeinden vor dem üblen Weibsbild zu schützen. Ich kenne Sam gut. Er ist mein Onkel. Ein Schwätzer, der sich für sehr schlau hält. Seror und Haqiqi waren felsenfest davon überzeugt, dass wir alle mit Lauras Zurechtweisung einverstanden sein würden. Sie waren der Meinung, dass uns Laura, als eure beste Freundin, daran hinderte, euch zu kontrollieren. Sie rechneten mit uns wie mit kleinen, braven Soldaten, und damit hatten sie schließlich nicht ganz unrecht. Aber sie überschätzten ihren Einfluss. Sie forderten, wir sollten Laura entführen. Irgendwie waren sie an ihre Flugpläne gekommen und erwarteten von uns, sie zwischen Metro und Haustür abzufangen. Danach sollten wir sie im Lieferwagen zu einem Lagerhaus hinter der Stadtautobahn bringen, wo uns Moktar und dieser andere Typ erwarten würden. Angeblich wollten sie ihr nur so viel Angst einjagen, dass sie aus dem Viertel fortzog und die Gläubigen und unsere Schwestern in Ruhe ließ. Wir drei haben uns zum ersten Mal seit vier oder fünf Jahren wieder wirklich angeschaut, und uns war, als erwachten wir aus einem bösen Traum. Wie in einem Film, in dem der Held sich von dem Schicksal befreit, das die böse Hexe ihm zugedacht hat. Es passierte, als Sam den Ausdruck ›die Gläubigen‹ benutzte. Er klang falsch. Und plötzlich wurde uns klar, dass er aus dem Mund unserer Anführer, denen wir nun schon seit Jahren folgten, ebenso falsch klang. Wir sahen uns an und antworteten, dass wir nicht mitmachen würden, dass wir nicht mit von der Partie wären. Moktar versuchte zwar weiter, uns zu überzeugen, aber Sam hatte begriffen, dass das nichts nutzte. Und dann trat dieser andere Typ – der Kerl, der nichts sagte – aus dem Schatten hervor. Er lächelte heiter und fuhr sich mit dem Daumen über die Kehle. Er drohte uns vollkommen wortlos. Und das ist die ganze Wahrheit. Wir hatten Angst. Wären wir nach dieser Versammlung sofort zur Polizei gegangen, würde Laura noch leben.«
    Aïcha und Bintou starren zunächst Ruben, dann auch Alpha und Mourad mit aufgerissenen Augen an. Beide Frauen weinen. Die jungen Männer schweigen unbehaglich. Sie müssen noch mit sich selbst fertig werden. Mit ihrer Passivität. Und mit dem Unerklärbaren.
    DAS VERBRECHEN
    IHR VERBRECHEN
    Viereinhalb Minuten. Das Schweigen wird unerträglich. Flüsternd fragt Alpha:
    »Was sollen wir jetzt tun? Die Polizei informieren?«
    Bintou trocknet sich die Augen mit einer Papierserviette.
    »Gleich. Aber erst müsst ihr uns noch von euch erzählen.«
    Zögernd drückt sie erneut die Hand ihres Bruders.
    »Wie ist es zu alledem gekommen? Wie konntet ihr da hineingeraten? Warum seid ihr so geworden?«
    »Das ist eine lange Geschichte. Den Anfang kennt ihr ja. Vier Jungs, die in der Pause auf dem Schulhof Superman spielen, später den Rap entdecken, die Stars des Viertels werden und sich ein paar Jahre später wegen einer

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