Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
Schokocroissants bitte.«
»Drei Euro vierzig bitte.«
Ein Fünf-Euro-Schein. Wechselgeld.
»Dürfte ich Sie um einen Gefallen bitten?«
Ein fragender Blick.
»Ich möchte einen Freund hier im Haus besuchen, habe aber mein Adressheft mit dem Zugangscode vergessen. Könnten Sie ihn mir verraten?«
»Warum rufen Sie ihn nicht einfach an?«
»Sie finden das vielleicht seltsam, aber … ich besitze kein Telefon.«
Die Verkäuferin taxiert ihn.
»Wie heißt Ihr Freund?«
»Al.«
Ihr Blick verändert sich. Einen Moment lang scheint sie zu träumen. Ihre Unterlippe ist feucht und glänzt. Aber die Frau fängt sich schnell wieder und lächelt ihn amüsiert an.
»Kommen Sie mit.«
Die Chinesin lässt Ahmed am Tresen vorbei in die hinteren Räume gehen, dort befindet sich eine Tür zum Hof.
»Vielen Dank.«
»Bitte.«
Unebenes Kopfsteinpflaster, Eichen, Sonnenstrahlen, die durch dichtes Laub fallen. Diese Art von Vergangenheit liebt er. Ganz hinten im Hof befindet sich ein kleines, weißes Haus. Drei Etagen. Die Fenster des obersten Stockwerks sind weit geöffnet. Musik ist zu hören. Gitarren vom Ufer des Niger. Inspiriert von Salif Keïta et les Ambassadeurs, um genau zu sein. Ahmed steigt die Treppe hinauf. Er fühlt sich plötzlich ganz leicht. Er klopft so lange, bis die Gitarre aufhört. Ein roter Schopf zeigt sich im Türspalt.
»Yo! Man.«
Ihre Handflächen berühren sich kurz. Dann ballen sie die Fäuste und stoßen sie sanft gegeneinander. Es ist die rituelle Begrüßung des Ghettos, mit der man die Kraft und Männlichkeit seines Gegenübers anerkennt.
»Yo! White nigger. What’s up?«
»Alles gut!«
»Deine Klampferei ist besser geworden. Zuerst dachte ich, du hörst dir das Original von Salif an.«
»Ich übe vier Stunden am Tag. Komm rein.«
Ahmed betritt die Wohnung. Darin stehen eine uralte, mit einem kunterbunten indischen Batiktuch bedeckte Couch und ein mit Flaschen und halbvollen Aschenbechern vollgepackter Tisch, dessen Platte auf zwei Böcken ruht, an der Wand hängen Ansichtspostkarten, Flyer und Fotos von nackten Frauen. In einer Ecke steht ein alter Plattenspieler auf dem Boden. Al hat in seinem ganzen Leben noch nie eine CD gekauft. Seine Schallplatten decken ein breites musikalisches Spektrum ab, von Yes über Tschaikowsky bis hin zu Hendrix und TP OK Jazz aus Kinshasa. Al setzt sich auf einen wackligen, wassergrünen Bürostuhl, der aus einer Zeit stammt, in der es noch Bakelittelefone und moleskinbezogene Sitzbänke gab, und natürlich Sekretärinnen, die ihre Chefs in Tweedrock, fleischfarbener Stumpfhose und mit tiefem Ausschnitt bezirzten. Ahmed lässt sich auf dem Besucherplatz nieder, auf der Couch, wo man – wie es sich gehört – ein wenig niedriger sitzt. Sein Blick streift durch das Zimmer, das er seit drei Jahren nicht betreten hat. Nichts hat sich verändert. Al lässt ihm die Zeit, die er braucht, um wirklich anzukommen.
»Ganz schön lange her.«
»Irgendwie habe ich mich zu Hause vergraben. Ich war so gut wie nie vor der Tür, ich habe es nicht einmal geschafft, die Rue de l’Ourcq zu überqueren. Erinnerst du dich an Patrick McGoohan in Nummer 6? Also, das war ich. Abgesehen davon, dass mich niemand am Weglaufen gehindert hat, ich wollte ja gar nicht abhauen. Ich glaube, ich war in meinem Kopf gefangen.«
»Und wie hast du es geschafft, aus deinem Kopf wieder rauszukommen?«
»Keine Ahnung. Die Nachbarin, die über mir wohnte, ist ermordet worden. Ich habe sehr lang geschlafen, und jetzt bin ich dich besuchen gekommen.«
Al sagt nichts. Er schiebt ein paar lose Blätter beiseite, seine neuesten Kompositionen. Darunter kommt eine marokkanische Holzkiste mit Metallintarsien zum Vorschein, in der mehrere kleine Plastiktüten liegen. Er wählt eine, deren Inhalt schön dunkelgrün ist. Schon an der Farbe erkennt Ahmed, dass es sich nicht um holländischen Stoff handelt, denn der ist deutlich heller. Möglicherweise ist es Thai oder African, auf jeden Fall aber original Weed ohne Gentechnik. Das andere verkauft Al an seine Kunden. Immer noch schweigend baut der Zeremonienmeister einen stattlichen Joint und reicht ihn seinem Freund. Ahmed zündet ihn an, inhaliert tief und hält den Rauch mehrere Sekunden in der Lunge, ehe er langsam ausatmet. Nach zwei Zügen reicht er ihn an Al weiter, der nur ein wenig pafft, als rauche er eine Zigarette. Sie schweigen weiter. Ahmed stellt fest, dass sich die Welt um ihn herum verändert. Auch wenn alles noch an seinem
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