Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
angestammten Platz ist und auch die Farben und Gerüche die gleichen sind, scheint das Universum doch plötzlich einen Sinn zu bekommen. Ein Glas ist nicht mehr einfach nur ein Glas, es stellt jetzt sein Glas-Sein in der Welt dar. Oder anders ausgedrückt: sein Dasein als Glas in dieser Welt. Die neue Sicht der Dinge verleiht Ahmed das Gefühl, dass er sich ausdehnt, sich immer weiter ausdehnt, bis er die Unendlichkeit in sich aufnehmen kann. Er ist rundum zufrieden. Zum ersten Mal seit Jahren entspannt er sich und beobachtet die Einzelteile seiner persönlichen Geschichte, die vor ihm ausgebreitet liegen. Nur noch ein paar Minuten oder ein paar Jahre, dann wird er darüber reden können.
Al beobachtet ihn schweigend. Als Dealer raucht er zwar jeden Tag Gras, überlässt sich aber nie mit Haut und Haar der Wirkung des Tetrahydrocannabinols. Sein Handel dient der Finanzierung seines nicht unerheblichen Eigenbedarfs. Seine übrigen Ausgaben deckt er, indem er mit seiner Musik durch die Bars von Paris tingelt und Plakate anklebt. Al bekommt keine Sozialhilfe. Er geht, wenn möglich, jeder staatlichen Registrierung aus dem Weg. Sein neuester Song heißt: Escape from Sarkoland . Er freut sich wirklich, Ahmed wiederzusehen. Ruhig zieht er an seinem Joint und wartet, bis sein Freund den Pfad der Worte wiederfindet. Um sich die Zeit zu vertreiben, greift er nach einem leeren Blatt und einem Stift und zeichnet eine Mickymaus, die sich unter dem glänzenden Blick von Onkel Dagobert, dem größten Dealer von Entenhausen, einen Schuss setzt. Ahmed findet seine Stimme wieder.
»Weißt du, Al, ich habe schon immer Frauen getötet. Erinnerst du dich noch an die erste Novelle, die ich in der Schule geschrieben habe? Sie handelte von den Irrwegen eines Prostituiertenmörders. Er rührte die Frauen nie an und hatte nie Verkehr mit ihnen, fühlte sich aber vollkommen befriedigt, nachdem er sie erstochen hatte. Damals erschien mir die Story harmlos. Es war einfach eine Geschichte, die zum Zeitgeist passte. Später aber wurde das fast zwanghaft. In meinem Kopf entstanden immer öfter Bilder vom Tod. Vom Tod irgendwelcher Frauen, denen ich zufällig auf der Straße begegnete. Ich schlitzte sie auf und weidete sie aus. Dabei war ich innerlich heftig in Wallung. Ich konnte keiner Frau mehr ins Gesicht sehen. Ein Mädchen anzubaggern war für mich der reinste Horror. Wenn eine Braut mal richtig Lust auf mich hatte, konnte ich mich zwar darauf einlassen, aber das war es dann auch schon. Meistens jedenfalls. Wie konnte ich ein Mädchen anschauen und mit ihr schäkern, während ich mir gleichzeitig vorstellte, sie in Stücke zu schneiden? Hast du American Psycho gelesen? Ich habe mich immer mit Patrick Bateman verglichen.«
»Aber du hast nie jemanden umgebracht! Der ganze Kram spielt sich doch nur in deinem Gehirn und nicht in der Wirklichkeit ab, oder?«
Ahmed will schon antworten, besinnt sich dann aber und spricht die Worte nicht aus, die sich in seinem Kopf formen: »An dem Tag, als ich so etwas ganz real mit ansehen musste, habe ich den Boden unter den Füßen verloren.« Er wird es nicht hier sagen. Und nicht in Gegenwart von Al. Diese Begegnung mit seinem Innersten muss noch ein wenig warten. Aber eine Sperre hat sich gelöst, und das ist schon mal nicht schlecht. Ahmed kann zum ersten Mal wieder an das Lagerhaus denken. Und an das, was in jener Nacht passiert ist – in der Nacht, in der sein Leben stehenblieb. Al beobachtet ihn ruhig, als wolle er sagen, dass Ahmed sich hier keine Sorgen zu machen braucht. Wenn er reden wolle, dürfe er reden, und wenn nicht, dann eben nicht. Keine Hektik … Ahmed fährt fort:
»Im Grunde hast du natürlich recht. Ich habe niemanden umgebracht, was sicher nicht jeder von sich behaupten kann. Es gibt Menschen, die töten Frauen und Orchideen.«
Al dreht einen weiteren Joint, reicht ihn Ahmed und erklärt, dass es sich um einen Stoff mit Katapultwirkung handelt.
»Hier im Pariser Becken befinden wir uns höchstens zwanzig Meter über dem Meeresspiegel. Aber dort, wo dieses Haschisch gerollt wurde, in Himachal Pradesh, lebt man fünf- bis sechstausend Meter hoch. Wenn du das hier rauchst, selbst in der dritten Etage, katapultiert es dich direkt nach oben – sozusagen um die acht Kilometer auszugleichen, die uns vom Dach der Welt trennen.«
Zwei Züge später fühlt Ahmed sich tatsächlich in ungeahnten Höhen. Egal ob in Tibet, auf dem Mount Everest oder den Hochplateaus der kirgisischen
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