Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
jeder für sich herausfinden. Ahmed weiß, woher sein innerer Zwang kommt, es jeder Frau immer recht machen zu müssen. Es liegt an seiner Mutter. Was aber seine Mutter betrifft, ist da nichts als ein schwarzes Loch. »Ein Loch?«, hätte Germain an dieser Stelle gefragt. Sobald Ahmed an seine Mutter denkt, stellt sein Gehirn die Arbeit ein. Alles verschwimmt vor seinen Augen, er bekommt Gesichtszucken und schiebt den Gedanken schließlich möglichst weit von sich. Ein ganzes Jahr auf der Couch hat daran nichts geändert. Eines Tages war er es leid und ist nicht mehr hingegangen. Heute aber scheint es, als sei ein Schalter umgelegt worden. Tatsächlich muss Ahmed lachen, als er an das »Muss man?« des Psychiaters denkt. Wenn das kein Beweis ist!
Sein Weg am Ufer des Kanals entlang führt ihn zum Café Prune. Dr. Germain wohnt gleich um die Ecke. Während der Jahre seiner Analyse hat er in diesem Café vor jeder Sitzung einen Espresso mit Milch getrunken, obwohl er sonst nie Milch in den Kaffee nimmt. Nur montags und freitags, um Viertel vor neun. Heute betritt er die Kneipe erst um acht Uhr abends. Er lehnt sich an den Tresen. Dem Kellner – schwarzes Haar, schwarzes T-Shirt und bordeauxrote Schürze – scheint er bekannt vorzukommen. Als er ihm den Kaffee serviert, bittet Ahmed von einer plötzlichen Eingebung getrieben um ein Telefonbuch. Der Kellner wirft ihm einen seltsamen Blick zu und reicht ihm den Wälzer. Germain, Alfred, 18, Rue Dieu, Telefon 01 57 91 28 73.
»Haben Sie ein Münztelefon?«
Jetzt mustert ihn der Kellner wirklich verblüfft.
»Ein Telefonbuch und ein Münztelefon? Von welchem Stern kommen Sie? Nein, so ein Telefon haben wir nicht. Schon seit dem vorigen Jahrhundert nicht mehr.«
»Aber Sie haben doch sicher ein anderes Telefon. Ich muss dringend jemanden anrufen, es ist wichtig.«
Ahmed wirkt so überzeugend, dass der postmoderne Kellner ihm den Apparat vom Tresen reicht.
»Hallo Dr. Germain? Hier ist Ahmed Taroudant. Erinnern Sie sich an mich? Könnte ich vielleicht bei Ihnen vorbeikommen?«
»…«
»In zwanzig Minuten? Gern. Vielen Dank.«
Er gibt das Telefon zurück, trinkt seinen Kaffee, bezahlt, überquert die Straße und setzt sich ans Ufer des Kanals. Dr. Germains tiefe Stimme hat ihn um Jahre zurückversetzt, als er Sitzung für Sitzung die Geschichte seiner Eltern aufarbeitete, die er nur aus den ständig wiederholten Erzählungen seiner Mutter Latifa kennt. Bis zu seinem dreizehnten Lebensjahr ist Ahmed in einer Art tragischem Epos aufgewachsen. Danach kam nichts mehr.
Alles begann 1970, als Latifa Mint Ibrahim, Tochter eines Sufi-Lehrers aus Guelmim, an der Philosophischen Fakultät in Rabat angenommen wurde. Ihr Vater hatte eine moderne Einstellung. Er wollte Vorbild sein und drängte seine geliebte Tochter dazu, zu studieren und auf eigenen Beinen zu stehen. In dieser Zeit war das Regime extrem streng, schaffte es aber trotz aller Repressalien nicht, die Bevölkerung in den Griff zu bekommen. Die jungen Menschen glaubten felsenfest daran, die Welt und vor allem ihr Land ändern zu können. Latifa genoss ihre Freiheit und fühlte sich zu den radikalen Veränderern hingezogen. Sie schloss sich den Maoisten der neuen Bewegung des 23. März an und begeisterte sich für freiheitliches Gedankengut. Vor allem die Forderung nach Gleichheit hatte es ihr angetan. Als Kind fand sie es schwierig, Tochter eines Scheichs zu sein, und hätte liebend gern mit ihren dunkelhäutigen Dienerinnen getauscht, die gehen konnten, wohin sie wollten. Wenn sie aus der Schule kam, aß sie Datteln mit gewürzter Smen-Butter, die ihr von ihrer hartanya mit dem Namen Soueidou, einer befreiten Sklavin, gereicht wurden. Dabei träumte sie davon, die Ziege selbst zu melken und ihre Milch in dem alten Lederschlauch zu Butter zu schlagen. Wenn Soueidous Vater M’barek im Garten zum Dattelpflücken auf eine Palme stieg, sperrte Latifa die Augen weit auf und stellte sich vor, sie selbst säße dort oben. M’barek war ein khaddim, ein Sklave und damit noch nicht einmal ein Viertel so viel wert wie ein Mann. Und doch war er in Latifas Augen ein Symbol für Freiheit. Als ihre neuen marxistischen Freunde ihr Hegels Dialektik von Herr und Knecht nahebringen wollten, begriff sie sofort. Nie begriffen hat sie hingegen, warum sich alle von ihr abwandten, als sie sich in Hassan verliebte. Sie lernte ihn auf einem Musikfestival kennen. Hassan war schwarz – wie alle anderen Gnawa-Musiker, deren Vorfahren als
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