Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
Traum festzuhalten. Immerhin hat sie das Glück, unter Mercator zu arbeiten, der zwar auch nicht unbedingt ein Engel ist, dem es aber etwas bedeutet, Polizist zu sein. Etwas im Stile von: »Die Gesellschaft muss verteidigt werden.« Und zwar auch oder gerade gegen die Mächtigen. Ein wenig naiv ist er schon, der Boss. Wäre Rachel aber in die Dienststelle des 18. Arrondissements berufen worden, wäre ihr wegen Enkell und Benamer vermutlich nur ein Ausweg geblieben: auf die dunkle Seite zu wechseln.
Und genau das erträgt sie nicht an Meyer. Er zwingt sie, sich der allerdüstersten Seite zu stellen. Wenn sie ihn sieht, muss sie immer daran denken, dass Polizisten nicht immer nur wie Luke Skywalker sind, sondern manchmal auch wie Darth Vader. Eine Stimme in ihrem Inneren, die sie nur schwer akzeptieren kann, raunt ihr zu, dass es genau diese Mischung aus Gut und Böse ist, die ihre eigentliche Substanz ausmacht. Die inzestuöse Beziehung zwischen Verbrechen und Gerechtigkeit hat schließlich schon das tragische Schicksal ihrer Vorfahren besiegelt. Und dazu geführt, dass sie geboren wurde. An diesen verschütteten Teil denkt sie nur in der tiefsten Nacht. Er ist wie ein Geist. Der Geist der Polizei, der sie bis hierher gebracht hat und dessen negativste Ausprägung Meyer ist. Der Mann ist ein böser Geist – in Pantoffeln und mit einem Mundgeruch, dem selbst Chlorophylltabletten nicht gewachsen sind. Wenn überhaupt, dann würde sie Benamer vorziehen – den Folterknecht mit dem klaren Blick, der ihnen auf der Polizeischule die widerlichsten Verhörmethoden beigebracht hat und dem sie im letzten Monat dort hilflos verfallen war. Von allem, wofür er stand, fühlte sie sich abgestoßen, und doch hatte er eine geradezu magnetisierende Wirkung auf sie. In dieser Zeit las sie häufig Nietzsche, der ihr die philosophische Rechtfertigung par excellence lieferte: »Die Wahrheit ist ein Weib und wird nur einen Krieger lieben.« Ihre Beziehung war kurz und intensiv. Alle Männer nach ihm waren ihr fad erschienen. Trotzdem hat sie Benamer aus ihrem Leben gestrichen, weil sie nicht die geringste Lust hat, ihm in seine finsteren Niederungen zu folgen.
Gomes leidet unter Meyers feindlichem Blick. Rachel schaut dem jungen Beamten tief in die Augen, um ihn zu seinem angefangenen Bericht zurückzulotsen. Lauras Eltern, Vincenzo und Mathilde, hat er schnell ausgemacht. Sie bewohnen seit mindestens siebenundzwanzig Jahren das gleiche Haus in Niort, schon bei der Geburt ihrer Tochter waren sie unter dieser Adresse gemeldet. Gomes hat auch bei Google gesucht und dabei in der Online-Ausgabe der Zeitung Charente libre einen Artikel über Probleme der Ortsgruppe der Zeugen Jehovas mit dem Fiskus gefunden. Das Finanzamt hat die Nachzahlung von mehreren Tausend Euro gefordert, die zu zahlen die Zeugen Jehovas sich jedoch weigerten – unter Berufung auf das Gesetz über die Trennung von Kirche und Staat aus dem Jahre 1905, das religiöse Gruppierungen von bestimmten Steuern ausnimmt. Allerdings stehen die Zeugen Jehovas auf der vom Parlament erstellten Liste über Sekten und werden nicht als Religionsgemeinschaft anerkannt. Gomes ist sichtlich stolz auf seine Ergebnisse und will ein bisschen angeben.
»Dreimal darfst du raten, wer der Ortsgruppe der Zeugen Jehovas vorsteht.«
»Vincenzo Vignola.«
Der junge Lieutenant wirft Rachel einen enttäuschten Blick zu.
»Du hast es gewusst?«
»Also, ganz ehrlich: Die Lösung deines Rätsels war ziemlich offensichtlich. Außerdem habe ich vor knapp einer Stunde erfahren, dass die Religionszugehörigkeit der Eltern der Grund für das Zerwürfnis mit Laura war. Seit dem Auszug der Tochter haben sich die Eltern geweigert, sie auch nur ein einziges Mal zu treffen. Könntest du dieser Spur vielleicht nachgehen? Bitte! Ich muss mich noch darum kümmern, die Eltern zu benachrichtigen. Oder vielmehr sie benachrichtigen zu lassen. Ich hoffe nur, dass die Kollegen in Niort entsprechend Fingerspitzengefühl haben.«
Rachel bedankt sich bei ihrem jungen Kollegen und will ihm noch eine Frage zu der neuen Droge stellen, die im Viertel aufgetaucht ist, als sie erneut Meyers Blick begegnet. Ein merkwürdiges Kribbeln kriecht ihr über den Rücken. Spioniert er ihr etwa nach? Und wenn ja – in wessen Auftrag? Kann er das Gespräch auf diese Entfernung überhaupt hören? Sie vertagt die Frage auf später und geht auf dem Weg in ihr Büro an Jean vorbei, der sie nicht einmal bemerkt. Er sitzt träge vor seinem
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