Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
bei einem Arzt vorzustellen. Man ließ ihn einfach heimgehen. Mit zwanzig war er Nachtwächter und lebte zufrieden mit seinen Büchern und seinem Go-Spiel vor sich hin. Seine zwischenmenschlichen Kontakte beschränkten sich auf Al und zwei oder drei Kumpels. Ein Gefühlsleben und sexuelle Aktivitäten fanden nur sehr sporadisch statt. Ab und zu interessierte sich eine Frau für ihn. Er ließ es zu, bis sie seiner überdrüssig wurde. Für ihn ist Liebe gleichbedeutend mit Tod. Ahmed hat dem Schweigen seiner Mutter Namen zugewiesen: Oufkir, Tazmamart, Driss Basri. Er kennt die unterschiedlichen Foltermethoden. Wenn er an seinen Vater denkt, sieht er einen Mann, der eine Frau geliebt und dafür mit seinem Körper bezahlt hat, bis er unter Schmerzen starb. Er hat sich alle möglichen Todesarten vorgestellt. Alle Qualen. Wasserkerker. Papageienschaukel. Zahnfolter. Verbrennungen. Und dann auch noch die, von denen er bei Sade gelesen und die er auf Georges Batailles Foto von dem bei lebendigem Leib zerstückelten Chinesen gesehen hat. Das Innere seines Kopfes besteht nur noch aus Schreien und gemartertem Fleisch.
Bilder.
BILDER.
Ahmed steht auf. Er vermutet, dass es Zeit ist, zu Dr. Germain zu gehen. Zeit für Worte.
8
Im Bunker berichtet Gomes, der sich sichtlich unbehaglich fühlt, Rachel Kupferstein, was er über Laura Vignolas Familie in Niort in Erfahrung gebracht hat. Seit er im vergangenen Oktober unmittelbar nach der Polizeischule bei der Kripo angefangen hat, ist der junge Beamte von Rachel fasziniert. Er würde alles tun, um ihr ein Lächeln zu entlocken. Rachel nutzt diese Macht nur sehr zurückhaltend aus und nur, wenn sie wirklich dringend Unterstützung braucht. Sie möchte es nicht einzig ihrem Charme zu verdanken haben, dass jemand ihr hilft. So, wie sie es von Gomes erbeten hat, was sie unter Kollegen eigentlich für völlig selbstverständlich hält. Allerdings ist ihr klar, dass die meisten Kollegen Lieutenant Hamelot und sie selbst nicht sonderlich schätzen. Mercator bildet da eine löbliche Ausnahme. Für die anderen arbeiten sie als Team zu unkonventionell, sind zu verkopft und einfach anders. Rachel würde sich vermutlich ärgern, wenn diese allgemeine Ablehnung, über die sie im Grunde nur müde lächelt, auch auf ihren jungen Bewunderer abfärben würde. Natürlich schmeichelt es ihr, so viel Einfluss auf Gomes zu haben, obwohl er überhaupt nicht ihr Typ ist und zu allem Überfluss mit Vornamen auch noch Kevin heißt. Sosehr sie auch versucht, gegen ihre Vorurteile anzukämpfen – dieser Name ist einfach abstoßend. Sie bemüht sich also mit viel Fingerspitzengefühl, ihre betörende Macht über den jungen Mann so lange wie möglich aufrechtzuerhalten. Gomes zupft nervös an seinem Hemdkragen. Rachel muss sich eigentlich nicht umschauen, um den Auslöser seiner wachsenden Verlegenheit auszumachen. Sie tut es trotzdem, und sei es nur, um ihrem einzig wirklichen Feind in der Dienststelle zu beweisen, dass sie ihn nicht fürchtet.
Am anderen Ende des Großraumbüros schaukelt der alte Lieutenant Meyer lässig auf seinem Stuhl und beobachtet Gomes und Kupferstein mit spöttischer Miene. Er kaut einen Kaugummi und lässt eine große, grüne Blase ausgerechnet in dem Moment platzen, als Rachel ihm in die Augen schaut. Ekelhaft. Der Kerl ist einfach nur ekelhaft. Allein sein Anblick weckt in ihr das Bedürfnis nach einer Dusche. Er ist einer von den ewig Gestrigen – fett, aber muskulös, ein verbitterter Rassist, überzeugter Macho und verbissener Schwulenhasser. Und natürlich Antisemit, vor allem wohl deshalb, weil man ihn mit seinem elsässischen Nachnamen oft für einen Juden hält. Wenn sie ihm gegenübersteht, lässt Rachel unwillkürlich die engelsgleiche Antirassistin heraushängen, oder sie gibt sich als Wachhündin und Abonnentin der Satirezeitschrift Charlie Hebdo . Sie erträgt diesen Kerl einfach nicht. Dabei stört sie gar nicht mal so sehr, dass Meyer ist, wie er ist. Aber dass es ihm mit seinem gedankenlosen Blick gelingt, den Teil in ihr zu wecken, den sie selbst am wenigsten an sich mag, das verzeiht sie ihm nicht. Sie ist schließlich aus einem ganz bestimmten Grund Polizistin geworden und nicht, um dem Lehrer François Marin in dem Film Die Klasse nachzueifern. Ihr erklärtes Ziel ist es, ihr Hirngespinst zu verwirklichen und eine unsinnige Idee in die Tat umzusetzen: Es geht ihr um Stärke im Dienst der Gerechtigkeit. Soweit es ihr möglich ist, versucht Rachel an diesem
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