Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
Sklaven vom Ufer des Flusses Niger nach Marokko verschleppt worden waren, aus einem Land, das die Araber bilad as Sûdan – das Land der Schwarzen -nannten. Der Handel mit Schwarzen war jahrhundertelang ein lukrativer Einkommensweg und die Grundlage für den Reichtum zahlreicher ehrenwerter Familien in Fes und anderswo gewesen. Diese frommen Muslime störten sich nicht daran, dass sie ihren Luxus dem Handel mit Menschen verdankten, die Muslime waren wie sie. Den Gnawas gelang es, die Erinnerung an die Musik ihrer Vorfahren aufrechtzuerhalten. Es war eine Musik, die Kranke von bösen Geistern erlösen konnte, von denen sie besessen waren. Eines abends – es geschah nur ein einziges Mal – vertraute Latifa Ahmed an, dass sein Vater Hassan manchmal Visionen hatte. Schon lange bevor er sie kennenlernte, hatte er gewusst, dass sie für ihn bestimmt war und dass ihre Liebe ihn ins Verderben stürzen würde. So stand es geschrieben, und er war kein Mann, der sich seinem Schicksal entzog. Latifa wollte ihrem Sohn damit sagen, dass er diese Gabe geerbt hatte. Schon beim ersten Blick, so fuhr sie fort, wusste sie, dass Hassan der freie Mann war, auf den sie ihr Leben lang gewartet hatte. Doch sie wusste nicht genug über ihr Land und über die Zeit, in der sie lebte. Sie gab sich ihrer Liebe ganz und gar hin, ohne an die Risiken zu denken und ohne zu ahnen, welchen Preis sie dafür würde zahlen müssen. Hassans Liebe zu ihr war noch stärker, obwohl oder gerade weil er wusste, dass im Hintergrund sein Tod lauerte. Eines Tages kam er nicht zu einer Verabredung und verschwand, was in dieser schweren Zeit häufiger vorkam. Niemand wagte es, Fragen zu stellen. Ein Gnawa hatte sich in eine junge Frau aus gutem Hause verliebt, das war eine Situation, welche die politische Polizei nicht allzu häufig handhaben musste. Ging es also um die persönliche Initiative eines rassistischen oder vielleicht eifersüchtigen Polizisten? Oder hatte Latifas Vater die Finger im Spiel? Jedenfalls war Latifa sofort klar, dass sie ihren Geliebten niemals lebend wiedersehen würde, und sie beschloss, aus ihrem Land zu fliehen und nie mehr zurückzukehren. Ihre Freunde waren so mit ihrer Revolution beschäftigt, dass sie ihrer Geschichte keine Bedeutung beimaßen. Lediglich Ahmed Taroudant, ein insgeheim homosexueller Spross der Mittelschicht von Agadir, erklärte sich bereit, Latifa zu helfen. Er versteckte die Tochter des Scheichs, besorgte falsche Pässe und verließ mit ihr das Land. Sie verkleideten sich als Bauern und überquerten die Grenze zu Algerien im Süden, zu einer Zeit, als zwischen Afrika und Europa noch Reisefreiheit für Schwarze und Araber herrschte. In Frankreich stellte die junge Araberin fest, dass sie schwanger war, und beschloss, das Baby zu behalten. Ahmed blieb bis zur Geburt bei ihr und erkannte das Kind, das seinen Namen erhielt, als seines an. Er war der einzig wahre Freund, den Latifa je hatte. Nachdem der kleine Ahmed das Licht der Welt erblickt hatte, kehrte der Mann nach Marokko zurück. Drei Jahre später brach der Kontakt ab.
Ahmed trägt den Namen und den Vornamen des Retters seiner Mutter. Von seinem leiblichen Vater kennt er nur den Vornamen, Hassan. Nie hat Latifa ihm den vollständigen Namen verraten. Er kennt nur diese immer gleiche Erzählung. Zwei Leben sind in diese Darstellung eingeschlossen. Wie soll man so weiter existieren? Das geht nur, indem man sich in das Leben einer fiktionalen Person flüchtet. Latifa, die sich ständig mit irgendwelchen Jobs über Wasser hielt, verlor nach und nach den Boden unter den Füßen. Sie arbeitete als Verkäuferin in einer Buchhandlung, dann verkaufte sie Obst und Gemüse, später Blumen. Und dann irgendwann gar nichts mehr. Ärzte kamen ins Spiel. Psychiater. Schließlich wurde Latifa in eine Anstalt eingewiesen. Mit vierzehn musste Ahmed allein klarkommen. Latifa stand entweder unter dem Einfluss von Neuroleptika oder befand sich in der Klinik. Zunächst in Maison-Blanche, später, als die Ärzte jede Hoffnung auf Besserung aufgaben, wurde sie nach Pithiviers verlegt. Schon bald fühlte sich Ahmed wohler, wenn seine Mutter in der Anstalt war. Die Betreuerin vom Jugendamt verhielt sich recht großzügig. Er musste nicht ins Heim, fälschte dann und wann Unterschriften und lebte vom Kindergeld. Mit sechzehn nahm er den ersten Job an. Mit achtzehn wurde er bei der Musterung für untauglich befunden, ohne dafür etwas fälschen zu müssen. Er brauchte sich nicht einmal
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