Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
leeren Bildschirm und wirkt, als sei er außer Betrieb. Sie lässt ihn in Ruhe, setzt sich an ihren Computer, sucht eine Nummer heraus und wählt.
»Hallo? Spreche ich mit der Dienststelle in Niort? Hier spricht Lieutenant Kupferstein aus Paris, 19. Arrondissement. Könnten Sie mich bitte mit Ihrem Vorgesetzten oder dem verantwortlichen Diensthabenden verbinden?«
»Einen Augenblick bitte.«
»Hallo, hier spricht Commissaire Jeanteau. Ich bin gerade auf dem Sprung.«
»Guten Abend, Commissaire Jeanteau. Hier spricht Lieutenant Kupferstein aus Paris, 19. Arrondissement. Bei uns ist eine junge Frau namens Laura Vignola ermordet worden, deren Eltern in Niort wohnen.«
»Aha. Und was können wir für Sie tun?«
»Also … Wir haben zwar Adresse und Telefonnummer der Eltern, sind aber der Meinung, dass man ihnen den Tod ihrer Tochter nicht einfach telefonisch mitteilen sollte. Ich möchte gerne wissen, ob sich jemand in Ihrer Dienststelle dieser Sache annehmen könnte.«
»Wissen Sie, wir sind ohnehin schon unterbesetzt. Wenn wir jetzt neben unserer eigenen auch noch Ihre Arbeit machen sollen …«
»Ich kann Sie gut verstehen, aber bedenken Sie bitte unsere Verantwortung. Falls etwas passieren sollte … Man kann nie wissen, wie die Leute reagieren werden, wenn man nicht selbst vor Ort ist. Immerhin ist es ihre einzige Tochter. Außerdem wissen wir von der Concierge, das die junge Frau sich mit ihren Eltern nicht besonders gut verstand. Es kann natürlich sein, dass der Streit keinerlei Verbindung zu dem Verbrechen hat, aber in diesem Stadium müssen wir allen Hinweisen nachgehen. Wenn Sie also selbst hingehen oder einen bewährten Beamten hinschicken würden, bringt das die Eltern vielleicht zum Reden, und wir könnten dadurch etwas über die Persönlichkeit des Opfers herausfinden.«
»Okay, okay. Wissen Sie was, ich kümmere mich selbst darum. Meine Frau hat sich ohnehin längst daran gewöhnt, dass ich zu spät komme. Außerdem sind heute meine Schwiegereltern zum Essen da, und auf diese Weise habe ich wenigstens einen guten Vorwand, erst zum Verdauungsschnaps zu erscheinen. Erzählen Sie mir von dem Mord.«
Rachel gibt dem Kollegen alle notwendigen Informationen, ohne allerdings hinsichtlich der Inszenierung allzu sehr ins Detail zu gehen, um ein mögliches Fluchtrisiko so gering wie möglich zu halten. Jeanteau verspricht ihr, sie sofort anzurufen, wenn er den Auftrag erledigt hat. Sie gibt ihm ihre Handynummer und fügt wie beiläufig im letzten Moment noch etwas hinzu.
»Ah, beinahe hätte ich es vergessen: Die Leute gehören den Zeugen Jehovas an.«
»Den Zeugen Jehovas? Das sind doch echte Spinner, oder? Ich habe schon im Sektenmilieu ermittelt, allerdings noch nie bei den Zeugen. Nun, vielleicht lerne ich noch etwas dazu. Ich rufe Sie später an. Wünschen Sie mir einen guten Abend!«
»Einen guten Abend, Herr Kollege.«
Rachel ist erschöpft und will nur noch raus aus dem Bunker, möglichst schnell. Sie geht zu Jean, der inzwischen aus seiner Starre erwacht ist, und schlägt ihm vor, zu Fuß zum Bœuf-Couronné zu gehen, wo das heiß ersehnte Steak auf sie wartet.
9
In dem schmalen Flur, der seinen Warteraum vom Behandlungszimmer trennt, reicht Dr. Germain Ahmed die Hand. Der Arzt ist um die sechzig, ziemlich groß und hält sich ein wenig gebückt. Er hat ein eckiges Gesicht, weißes Haar und trägt eine runde Brille und eine braune Cordhose.
»Sie sind zurückgekommen. Also …«
Ahmed blickt den Psychiater an und erinnert sich mit einem Mal, was eine Analyse bedeutet. Es geht nicht nur darum, jemandem sein Herz auszuschütten und sein Innerstes auszubreiten, sondern es bedeutet auch, Offensichtliches zu hinterfragen. Er ist zurückgekommen – also muss er sofort die Gründe für diese Rückkehr erforschen. Zwar weiß er, was er dem Psychiater sagen will – aber warum will er es sagen? Ahmed erinnert sich, dass er einmal auf der Couch über die Parallelen zwischen einer Analyse und einer Beichte gesprochen hat. »Nur dass hier keine Buße auferlegt wird«, lautete die Antwort des Arztes. Ein anderes Mal, als er sich mit seinem schlechten Gewissen gegenüber seiner Mutter herumquälte, hatte Dr. Germain ihm vorgeschlagen, nach einem anderen Wort dafür zu suchen, das weniger nach einem Schuldeingeständnis klang.
»Ja, ich bin zurückgekommen.«
Ahmed legt sich auf die Couch und fühlt sich plötzlich sehr wohl.
»Ich finde Ihre Frage witzig. ›Sie sind zurückgekommen. Also …‹
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