Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
Eigentlich ist es ja gar keine Frage. Wenn ich es schreiben müsste, würde ich dahinter kein Fragezeichen, sondern drei Punkte setzen. Man sollte für die Psychoanalyse vielleicht eine eigene Interpunktion erfinden. Diese kurze Frage hat für mich alles über den Haufen geworfen. Eigentlich wollte ich Ihnen eine Art Geständnis machen und Ihnen erzählen, was mich damals nach Maison-Blanche gebracht hat. Diese Sache, die ich gesehen habe, aber selbst hier nie aussprechen konnte. Für mich war das Geschehen so unsäglich, dass ich es schließlich mit meinem eigenen Schweigen verwechselt habe. Bis vor drei Minuten hatte sich daran auch noch nichts geändert.«
»Und jetzt?«
»Jetzt weiß ich, dass ich es endlich aussprechen muss. Aber ich weiß auch, dass diese Sache nicht der wahre Grund für mein Schweigen ist. Obwohl es einen ganz schön mitnimmt, bei einem Mord zusehen zu müssen und ihn nicht verhindern zu können.«
»Ein Mord …«
»Es ist wie eine Art Knoten. Ein Knäuel aus dem Tod meines Vaters, dem Wahnsinn meiner Mutter und dem Mord an dieser jungen Frau im Möbellager. Das alles steckt irgendwie in meinem Hals fest und will einfach nicht herauskommen. Genau wie diese Bilder, die mich seit langer Zeit heimsuchen. Es ist doch mein Vater, der so gestorben ist, Scheiße! Wieso also sehe ich mich ständig Frauen umbringen?«
»Ja? Was haben diese Frauen denn verbrochen?«
»Oh, Scheiße!«
Ahmed seufzt. Tränen rinnen lautlos über sein Gesicht. Mit erstickter Stimme spricht er weiter.
»Das ist heute schon das zweite Mal. Beim ersten Mal hatte ich an Laura gedacht.«
»Wenn ich mich recht erinnere, ist Laura Ihre Nachbarin, nicht wahr?«
»Sie war es.«
»…«
»Sie wurde ermordet. Erst jetzt habe ich begriffen, dass sie mich insgeheim geliebt hat. Und jetzt ist sie tot. Für immer. Ich leide darunter, dass wir nicht das miteinander erlebt haben, was wir hätten erleben können. Und deshalb habe ich beschlossen, zu leben. Aus diesem Grund bin ich zurückgekommen.«
Dr. Germains Stimme verändert sich. Nur ganz leicht.
»Jemand muss Laura getötet haben. Das wollten Sie mir doch sagen, oder?«
»Ganz genau. Ach übrigens, Herr Doktor …«
»Ja?«
Ahmed setzt sich auf und blickt dem Arzt fest in die Augen.
»Wie weit reicht die ärztliche Schweigepflicht? Bleibt das alles hier unter uns?«
Germain erwidert Ahmeds Blick aus seinen hellen Augen.
»Die Schweigepflicht hat keine Grenze. Was hier gesagt wird, bleibt für immer unter uns. Wollen Sie fortfahren?«
Ahmed legt sich wieder hin.
»Ich habe Lauras Leiche als Erster gefunden, aber das habe ich der Polizei verschwiegen. Ein ehemaliger Insasse von Maison-Blanche, der von Stütze lebt und einen Großteil seiner Zeit damit verbringt, Krimis über durchgeknallte Mörder zu lesen … Na ja. Ich stand von vornherein auf verlorenem Posten. Aber als ich Laura fand, wurde ich total wütend und wollte mich unbedingt rächen. Das ist es, was mich aufgeweckt und zu Ihnen zurückgeführt hat: Um Laura zu rächen, muss ich erst einmal in meinem Kopf aufräumen. Ich muss unbedingt meinen Vater, meine Mutter, meine Begierden, Laura und Emma auseinanderhalten.«
»Emma?«
»Ja, Emma. Ich habe Ihnen noch nie von ihr erzählt. Ich musste im Möbellager mit ansehen, wie sie umgebracht wurde. Verstehen Sie? Zusammen mit Laura macht das schon zwei.«
»Haben Sie gesehen, wie Laura getötet wurde?«
»Nein, ich habe sie erst hinterher gefunden. Ihr Mörder hat sie außen an ihrem Balkon festgebunden. Ein Tropfen Blut ist auf mein Gesicht gefallen. Ich habe hinaufgeschaut, und als ich da über mir ihren Fuß sah, bin ich nach oben gegangen … Bei Emma war das ganz anders.«
»Darüber können wir vielleicht beim nächsten Mal reden.«
Auf diese Weise beendete Germain seine Sitzungen immer. Nach einer oder drei Viertelstunden. Ahmed hat sich wieder einigermaßen gefangen, doch er spürt, dass diese fünfzehn Minuten sehr schwer wiegen.
»Ich hätte morgen früh um halb acht einen Termin frei. Geht das bei Ihnen?«
Er verdaut ganz schön schnell, denkt Ahmed.
»Halb acht. In Ordnung.«
»Wir müssen auch noch über die Konditionen reden.«
»Die Konditionen. Ja, richtig.«
»Wenn Sie wirklich an sich arbeiten wollen, glaube ich kaum, dass wir so weitermachen können wie vorher – ich meine wegen der Kostenübernahme.«
»Verstehe. Klar. Ich muss darüber nachdenken.«
»Genau, denken Sie darüber nach. Schönen Abend noch.«
Germain reicht
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