Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
Ahmed die Hand. Er ergreift sie.
»Ihnen auch einen schönen Abend.«
Am Ufer des Kanals sitzen junge Leute mit Bier und Gitarren in Grüppchen beisammen. Ahmed nimmt sie kaum wahr. Er denkt an seine Mutter, die er seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hat, erinnert sich an ihr allmähliches Abgleiten in den Wahnsinn und ihre Angriffe auf ihn bei seinen Besuchen in der Klinik. Ja, es war richtig gewesen, jeglichen Kontakt zu ihr abzubrechen. Sein Überleben hatte auf dem Spiel gestanden.
Auf der Avenue Jean-Jaurès, in der Nähe der Metrostation Ourcq, schaut Ahmed zufällig durch das große Fenster des Bœuf-Couronné. Der Anblick der beiden Polizeibeamten, die sich über ihr Steak beugen, erscheint ihm völlig selbstverständlich. Sie waren es sich schuldig, zu diesem Zeitpunkt an diesem Ort zu sein. Jean schaufelt gedankenverloren rote Fleischbrocken in sich hinein, Rachel hingegen genießt jeden Bissen und jeden Schluck Wein. Der Anblick berührt Ahmed. Es gefällt ihm, sich vorzustellen, wie er gemeinsam mit ihr schweigend eine Mahlzeit einnimmt, genau so. Und bis dahin findet er es durchaus erstrebenswert, zumindest ab und an mit ihr zu telefonieren. Er wirft einen letzten Blick durch das Fenster und geht weiter in Richtung Kiosk. Wenige Minuten später, als er mit einer neuen Telefonkarte in der Tasche gerade das Haus betreten will, läuft er einem hochgewachsenen Schwarzen über den Weg, der eine Gebetskappe und ein wadenlanges Kamiss trägt. Moktar. Der würdigt ihn keines Blickes, sondern murmelt im Vorbeigehen nur: »Schweinefleischfresser! Eines Tages wirst du in der Hölle schmoren wie ein Spanferkel. Du stinkst wie ein Weißer …« Nachdenklich setzt Ahmed seinen Weg fort. Was hat diese Beleidigung zu bedeuten? Er bleibt stehen und dreht sich um. Moktar ist verschwunden. Wo ist er wohl hingegangen? In welches Haus, welches Geschäft? Merkwürdig. Und wieder hat Ahmed etwas, das er in seinem Kopf abspeichern muss. In seinem Briefkasten findet er einen in Bordeaux abgestempelten Brief. Eine Nachricht von seinem Cousin Mohamed.
Vor neun Monaten hatte eines Morgens ein etwa dreiundzwanzig- bis fünfundzwanzigjähriger Unbekannter bei Ahmed geläutet und behauptet, sein Cousin zu sein. Mohamed Nassir ist der Sohn von Natissa, der Schwester von Latifas Retter Ahmed Taroudant. Es war ihm nicht schwergefallen, Ahmed zu finden, denn dieser lebte noch immer in der Wohnung, die Taroudant vor dreißig Jahren bis zu Ahmeds Geburt mit Latifa geteilt hatte. Mohamed schien zu glauben, dass Ahmed tatsächlich der verheimlichte Sohn seines Onkels war, der später geheiratet und Kinder gehabt hatte, ohne je seine Neigung zu Männern zuzugeben. Dieser »Cousin« hatte drei Wochen lang Paris erkundet, bis er zu Beginn des Semesters nach Bordeaux zu seinem Physikstudium zurückgekehrt war. Ahmed empfand es als völlig normal, dass ein angeblicher Cousin, von dem er bis zu diesem Tag noch nie gehört hatte, einfach so bei ihm Unterschlupf suchte. Vielleicht lag das daran, dass Mohamed die einzige Verbindung zum Land seiner geistesgestörten Mutter und seines toten Vaters darstellte. Er hatte diese Verbindung nie gesucht, stellte jedoch fest, dass er sie auch nicht ablehnte. Er hat sich immer als Franzose gefühlt, Marokko war ihm immer als Land außerhalb seines Horizonts erschienen – verboten, gefährlich und unerreichbar. Aber irgendwie verspürte er eine innere Nähe zu seinem Cousin, obwohl die Umstände alles andere als einend waren. So ließ Mohamed nicht ein einziges Gebet ausfallen und bemühte sich redlich, seinem Cousin die Vorzüge des Islam zu unterbreiten. Trotzdem warf er Ahmed nie dessen Alkoholkonsum vor. Zwischen den beiden hatte ein angenehmes Gleichgewicht geherrscht, und Ahmed hatte seinen unerwarteten Cousin nicht in die Flucht schlagen wollen durch den Hinweis, dass sie nicht wirklich verwandt waren und dass sein Onkel sich eher zu Männern als zu Frauen hingezogen fühlte.
Seit Mohamed nach Bordeaux zurückgefahren ist, hat Ahmed ein oder zwei Briefe von ihm erhalten, aber da er mit seiner Dauerlektüre beschäftigt war, hat er sich nicht die Mühe gemacht, zu antworten. Seitdem herrscht Funkstille. Bis jetzt. Nachdem Ahmed die sechs Etagen zu seiner Wohnung zu Fuß hinaufgestiegen ist, legt er Mohameds Brief auf den Tisch und seine Jacke auf einen Stuhl, setzt sich auf den Boden und versucht, an gar nichts zu denken.
10
Eine Stunde zuvor sind Rachel und Jean bei Einbruch der Dämmerung
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