Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
gemütlich zum Bœuf-Couronné spaziert. Rachel geht den Weg in Gedanken noch einmal ab: Lehrer und Schüler strömen aus der Lubawitsch-Schule. Sie tragen weiße Hemden, schwarze Hüte und lange weiße geknotete Fäden, Zizijot , die unter den schwarzen Jacken hervorlugen. Ihre Blicke gleiten über Jean und Rachel hinweg. Vor allem über Jean, bei Lieutenant Kupferstein zögern sie kurz. Als würden die Gojim gar nicht existieren. Als wären Juden im Allgemeinen und Chassidim im Besonderen die einzig wirklichen Lebewesen. Jean ärgert sich über diese Einstellung, Rachel hingegen faszinierte diese Fähigkeit, Menschen einfach zu übersehen. »Wie machen sie das?« Sie erinnert sich an eine Reise nach Indien. Mehr als einmal hatte sie das seltsame Gefühl, plötzlich nicht mehr zu existieren und förmlich ausgelöscht zu sein, weil sie schlicht nicht gesehen wurde. Sie hatte sich die Strenge des Kastensystems vor Augen geführt, um das Gefühl besser ertragen zu können: Ein Brahmane weicht einem Unberührbaren großräumig aus, um immer auf sicherer Distanz bleiben zu können und ihn nicht ansehen zu müssen. Er nimmt ihn wahr, aber er sieht ihn nicht. Rachel erzählt Jean davon, um ihn zu beruhigen. »Findest du, dass die Spinnerei der Brahmanen die der Lubawitsch-Anhänger besser macht?«, antwortet er. Aber sein Zorn fällt in sich zusammen.
An der nächsten Ecke bietet sich ein ganz anderes Bild. Ein Grüppchen Muslime unterschiedlicher Hautfarbe lauscht andächtig einem großen, sehr mageren Schwarzen, der ein Gebetskäppchen und ein weißes Gewand trägt, das vorschriftsmäßig bis zu den Waden reicht. Im Zustand einer sehr beherrschten Trance predigt Moktar von der Zeit, als alle Menschen eine einzige Gemeinschaft bildeten, einen einzigen Körper rings um den Propheten. »Auch Juden und Christen hörten die Botschaft. Ihre Herzen waren nicht verschlossen. Sie erkannten die Wahrheit und wandten sich der wahren Religion zu.« Moktar ist siebenundzwanzig Jahre alt, seine Zuhörer zwischen fünfzehn und achtzehn. Ihre Augen glänzen. Die flammende, von arabischen Brocken durchsetzte Rede des selbsternannten Predigers entzündet ein Feuer in ihnen. »Nach dem Tod des Propheten – salla allahu alayhi wa sallam – ist die Spaltung unter die Menschen gekommen. Nie dürfen wir vergessen, dass die fitna das Werk Schaitans ist. Und um die Gemeinschaft der Umma wiederzufinden, müssen wir den gottesfürchtigen Führern nacheifern …«
AAAAAAMIN!
In ihrem kollektiven Schlussruf stößt die Gruppe den Frust des ganzen Tages aus.
Die beiden Polizisten bleiben stehen und hören aufmerksam zu. Moktar und die anderen tun so, als sähen sie sie nicht. Aber ihre Ignoranz wirkt aufgesetzter als die der Lubawitsch-Schüler. Die Anspannung der jugendlichen Zuhörer und die Modulation der Stimme des Salafisten zeigen sehr deutlich, dass der Prediger sich eigentlich an sie wendet – an die Juden, die Christen und die Atheisten. An Polizisten im Dienst des Schaitan , denen ewige Höllenqualen gewiss sind. Je eher, desto besser.
Minuten später setzen Hamelot und Kupferstein ihren Weg fort.
»Wenn man vom Teufel spricht!«, sinniert Jean. »Moktar ist heute ganz gut in Form.«
»In Höchstform. Was glaubst du, wie viele von denen sich innerhalb der nächsten drei Monate in Bagdad in die Luft sprengen?«
»So lange sie es in Bagdad tun …«
»Du machst es dir leicht mit deinem Zynismus. Die Kids stammen immerhin aus unserem Viertel, und es ist unser Job, auf sie aufzupassen.«
»Ich bin Bulle und kein Kindermädchen. Und außerdem: Wie willst du sie vor sich selbst schützen? Mensch, als ich Moktar kennengelernt habe, war er völlig normal. Ein wirklich schlaues Kerlchen, er hat sein Abi mit Bestnote gemacht. Das war vor deiner Zeit hier. Irgendwann hatte er was mit einer jungen weißen Frau. Er war total verliebt, aber seine Familie hat ihm den Umgang mit ihr verboten. ›Du bist ein Soninké und gehörst dem Adel an. Du musst eine Frau aus deiner Kaste heiraten.‹ Er ist ausgerastet und hat alles kurz und klein geschlagen. Ich hatte damals Bereitschaftsdienst. Wir haben ihn überwältigt und nach Saint-Anne gebracht, obwohl die Klinik eigentlich nicht für unseren Bezirk zuständig ist. Zehn Tage später war er wieder zu Hause. Der Familienrat beschloss, ihn in irgendein gottverlassenes Dorf am Ufer des Senegal-Flusses zu schicken. Nach drei Monaten kam er zurück. Er hatte sich verändert, war aber immer noch ziemlich
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