instabil. Kurz darauf landete er wieder in der Klinik – dieses Mal in Maison-Blanche und auch gleich für neun Wochen. Danach hatte er sich endgültig beruhigt. Ich habe keine Ahnung, was die Leute in seinem Dorf mit ihm gemacht haben, aber seit seiner Rückkehr pendelt er nur noch zwischen dem Gebetssaal und dieser Straßenkreuzung und predigt.«
Zum Schluss kommen sie an der evangelikalen Kirche vorbei, vor deren Tür sich eine kleine Schlange gebildet hat. Hier findet eine abendliche Betstunde mit Heilungen statt. Der Pastor stammt aus Togo, die Gläubigen sind Afrikaner, Leute von den Antillen, Weiße und Kabylen.
»Für heute Abend reicht es mir«, meint Rachel. »Komm, lass uns unser Steak verdrücken. Danach schaue ich noch mal im Bunker vorbei und frage Gomes, was er über die Zeugen Jehovas herausgefunden hat. Ich habe noch keine Ahnung, was hinter diesem Mord steckt, aber irgendwie passt er in unser Viertel. Hier steht ja wirklich an jeder Ecke ein religiöser Fanatiker.«
Zufällig ist ihr Lieblingstisch am großen Fenster frei, und wenige Minuten später dürfen sie endlich das ersehnte Steak genießen. Jean schließt einen Moment lang die Augen. Ein wenig beunruhigt fragt Rachel, ob alles in Ordnung ist.
»Ich weiß nicht recht. Ich bin plötzlich ziemlich müde. Und vor allem habe ich nicht die geringste Lust, heute Abend schon wieder allein zu Hause herumzusitzen. Irgendwie kann ich mich im Augenblick selbst nicht gut ertragen. Deswegen macht es mir auch nichts aus, lange zu arbeiten. Aber wenn sich der Feierabend nähert … Geht es dir nie auf den Senkel, ständig mit dir selbst zurechtkommen zu müssen?«
»Nein. Kann ja sein, dass es sich trivial anhört – aber warum suchst du dir nicht eine Freundin, wenn du nicht allein sein kannst?«
»Wie soll eine Frau mich ertragen, wenn ich es schon selbst nicht schaffe? Sie müsste ja Masochistin sein.«
»Solche Leute gibt es doch. Viele sogar. Los, jetzt iss. Kaltes Steak schmeckt nicht.«
11
Gomes ist zweifelsohne begabt. Er hat den Finanzbeamten ausfindig gemacht, in dessen Zuständigkeit die Angelegenheit der Zeugen Jehovas in Niort fiel. Als bekennender Sektenhasser war der Mann schnell bereit, dem jungen Lieutenant alles zu erzählen, was er weiß: Vincenzo Vignola ist also nicht nur Kassenwart der Zweigniederlassung der Zeugen in Niort, sondern auch Vorsitzender des Ältestenrates der gesamten Region, einer Instanz, die das Leben der Gläubigen bis in die intimsten Details reglementiert. Außerdem, so der Finanzbeamte, lehnen die Zeugen Jehovas Kontakt zu Außenstehenden weitestgehend ab. Er hat Gomes empfohlen, in Diskussionsforen ehemaliger Sektenmitglieder nach Informationen zu suchen. Und genau damit hatte Gomes gerade beginnen wollen, als Rachel kam.
»Hast du eine private E-Mail-Adresse? Falls ich einen Kontakt oder einen Link finde, maile ich ihn dir einfach zu.«
»Meine private E-Mail-Adresse? Sollte die nicht lieber privat bleiben? Na gut, weil du es bist:
[email protected]. Aber mal unter uns: Gehst du eigentlich nie nach Hause? Hast du keine Freundin? Kein Leben neben deiner Arbeit?«
»Das fragst ausgerechnet du? Du bist doch seit mindestens sechsunddreißig Stunden auf den Beinen. Ich bin Polizist, genau wie du, Rachel. Und ich will unbedingt Lauras Mörder zur Strecke bringen, daran arbeite ich. Wusstest du übrigens, dass die Zeugen Jehovas eine Menge Portugiesen missioniert haben? Sie haben auch einen meiner Cousins rumgekriegt. Wir sind zusammen in Sartrouville aufgewachsen; trotzdem redet er seitdem kein Wort mehr mit uns. Du siehst also, dass die Sache mich irgendwie auch persönlich betrifft. Geh schlafen. Sobald ich was Neues erfahre, schicke ich dir eine Mail.«
Rachel kann kaum fassen, wie intensiv Gomes sich in die Recherche stürzt. Zum ersten Mal nimmt sie ihn als Mann wahr. Zwar nicht als Mann, der für sie infrage käme, aber als Mann und nicht als Jungen, trotz des lächerlichen Vornamens. Vielleicht sollte sie bei Gelegenheit lernen, diesen Vornamen ohne Überheblichkeit auszusprechen.
»Okay … Kevin. Ich bin dann mal weg. Oder halt, warte, ich habe noch eine Frage. Hast du von dieser neuen Droge hier im Viertel gehört?«
»Nein. Was für eine Droge soll das sein? Sind deine Quellen zuverlässig?«
»Sagen wir mal so: Jemand hat mir gesteckt, dass es angeblich eine neue Art von Pillen gibt. Das Zeug scheint ähnlich wie Ecstasy zu funktionieren, allerdings mit viel stärkerer Wirkung. Ich