Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
du dich an 75-Zorro-19?«
»Du meinst die Rapper? Die Brüder von Bintou und Aïcha mit Moktar und Ruben?«
»Genau. Ich habe ihr Mixtape aus dem Jahr 2000 wiedergefunden. Sieh mal.«
Die Jungs haben sich als Bad Boys vor der Rotunde von La Villette ablichten lassen. Alle zeigen das gleiche Handzeichen: Der kleine Finger berührt den Daumen, die drei mittleren Finger sind weit gespreizt.
»Das Zeichen bedeutet Allah . Sie machen es alle, auch Ruben, es ist als Provokation der Weißen in den höheren Schulen im 6. Arrondissement gedacht. Man wollte die treffen, die sich dem Nervenkitzel aussetzten, samstags auf dem Malik-Markt die neuesten Mixtapes der angesagten In-Gruppen aus dem Ghetto zu kaufen. Das Interessanteste daran ist die Widmung: ›Für unsere ersten Fans – unsere kleinen Schwestern und besten Kumpel Rébecca, Aïcha und Bintou‹.«
»Soll das etwa heißen, dass Ruben der große Bruder von Rébecca ist?«
»Richtig. Und stell dir vor, ich habe die Gruppe tatsächlich schon einmal live gesehen.«
»Du bist zu Konzerten dieser Gruppe gegangen?«
»Nur einmal. Ich war neugierig. Die Mädchen müssen damals ungefähr siebzehn gewesen sein und haben vor dem ersten Stück auf der Bühne getanzt. Gestern habe ich sie nicht wiedererkannt, weil ich dieses Konzert völlig vergessen hatte. Außerdem sahen sie damals noch ganz anders aus. Sie trugen geschlechtsneutrale, schlabberige Jogginganzüge. Aber die Choreografie … Der Tanz war irgendwie wild. Ungezähmt. Vielleicht sollten wir ganz von vorn anfangen: Es geht damit los, dass sich vier Jungs aus dem Viertel in der Grundschule kennenlernen. Zwei Schwarze, ein Araber und ein Jude. Sie werden Freunde, schlagen zusammen über die Stränge und entdecken gemeinsam das Leben und die Musik. Im Gymnasium beschließen sie, eine Hip-Hop-Gruppe zu gründen. 75-Zorro-19. Neben Moktar, den du ja kennst und der den Beatboxer gibt, ist Aïchas Bruder Mourad mit von der Partie, ebenso wie Bintous Bruder Alpha und natürlich Ruben …«
»Der Bruder von Rébecca.«
» Right! Als ich in Paris ankam, fingen die Jungs gerade mit dem Studium an. Ihre Plakate hingen an sämtlichen Hauswänden, und jeder kannte ihre Texte. Zwei Jahre später, nach dem Diplom, wurde Moktar krank. Die Gruppe hat seinen Ausfall nicht überlebt. Heute Morgen habe ich überall gesucht und nicht nur dieses Mixtape samt Hülle gefunden, sondern auf meinem alten MP3-Player auch eines der Stücke. Hör dir das mal an. In der ersten Strophe – das ist Ruben.«
Rachel zwingt sich, ein leichtes Ekelgefühl zu unterdrücken, als sie sich die nicht ganz sauberen Kopfhörer in die Ohren steckt. Das Stück beginnt mit einem minimalistischen Rhythmus, dem ein höchstwahrscheinlich bei Prince entlehntes Gitarrenriff folgt, ehe eine Stimme einsetzt, die sie ein wenig an Kool Shen erinnert.
Kanak oder Schwarz/Wir sind nichts wert.
Der Pöbel hasst uns/Wir sind verkehrt.
Man jagt uns wie Hasen/Man wälzt uns im Dreck,
Wir sind Parias/Wir sollen weg.
Der Kolonialismus/Ist längst vorbei,
Doch unser Leben/Ist noch immer nicht frei.
Aber wir sind da, es ist auch unser Land
In dem wir leben wie Schatten an der Wand.
Es folgt ein Break mit einer ziemlich gewichtigen Basslinie, ähnlich wie bei AC/DC, danach setzt eine andere, etwas rauere und wildere Stimme ein. Rachel nimmt einen der Knöpfe aus dem Ohr und wirft Jean einen fragenden Blick zu. »Mourad«, sagt er.
Von ganz tief unten/Dringt hinauf unser Schrei.
Wir sind in der Falle/Und doch immer dabei.
Es gibt nichts zu verlieren/Wir wehren uns hart.
Unsere Väter warn anders/Sie warteten ab.
Schwarze sind dumm/Man sieht uns als Wilde,
Unzähmbar und stumm/Doch wir sind im Bilde:
Gestern warn es die Juden/Man macht sie zu Seife.
Wir vergessen es nicht/Langsam kommt es zur Reife.
Und trotzdem schlagen wir uns die Schädel ein
Jeder gegen jeden – und jeder allein.
Erneut verändert sich die Stimme. Rachel braucht Jeans Hinweis nicht mehr, um zu erraten, dass die besondere Sprechtechnik, die sich manchmal fast stammelnd anhört, zu Alpha gehört.
Genug ist genug/Wer ist unser Feind?
Halten wir doch zusammen/Kämpfen wir doch vereint
Gegner ist das Regime/Das uns ändern will
Wir sind wie wir sind/Wir halten nicht still
Denn auch wir sind was wert/Wir haben unsern Preis
Wir wollen niemand hassen/Erzählt doch keinen Scheiß.
Auch wenn für euch nur unser Schweigen zählt
Wir lassen uns nicht kaufen – für kein Geld der Welt
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