Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
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Rachel nimmt den Kopfhörer ab.
»Es ist nicht zu fassen. Wie haben sie es geschafft, von so viel politischem Bewusstsein zu der Engstirnigkeit zu mutieren, in der sie jetzt leben? Ruben hat sich den marokkanischen Chassidim angeschlossen, und seine Schwester hat sich bis zu ihrem Verschwinden vermutlich in die gleiche Richtung orientiert. Alpha und Mourad sind Stammgäste im gleichen Gebetssaal wie Moktar. Wie kommt es dann, dass offenbar weder Aïcha noch Bintou mit diesem fundamentalistischen Virus infiziert worden sind?«
»Warum sollten sie? Selbst bei großen Epidemien sind innerhalb einer Familie manche dahingerafft worden und manche nicht. Das gehört nun mal zu den Geheimnissen der Natur.«
»Mag sein. Aber stell dir doch mal vor, was es bedeutet, wenn man mit ansehen muss, wie der eigene Bruder plötzlich ein völlig anderer Mensch wird. Es muss sich ziemlich seltsam anfühlen.«
»Na ja, du hast ja heute Nacht bei eurer kleinen Skype-Party alle Zeit der Welt, den Frauen diese Frage zu stellen. Sag mal, weißt du eigentlich, wer der Imam dieses Gebetssaals ist? Na? Unser lieber Freund Abdelhaq.«
»Abdelhaq Haqiqi! Den hatte ich überhaupt nicht mehr auf dem Schirm! Ist sein kleiner Bruder Hassan eigentlich inzwischen verurteilt worden?«
»Nein, er sitzt noch in Untersuchungshaft. Sollten wir Haqiqi bei Gelegenheit vielleicht mal einen kleinen Besuch abstatten und uns nach dem Wohlergehen seiner Familie erkundigen?«
Rachel gibt darauf keine Antwort, sondern folgt weiter ihrem Gedankengang.
»Drei Salafisten, ein Krypto-Lubawitsch. Eine kleine Schwester, die verlorengegangen ist, zwei andere, die mit Fundamentalismus absolut nichts zu tun haben. Ihre beste Freundin wird ermordet, die Inszenierung lässt auf eine religiöse Anspielung in Richtung Unreinheit schließen. Was will uns das alles sagen? Logischerweise und vor dem Hintergrund des Zeitgeistes müssten wir uns eigentlich auf die Salafisten konzentrieren, aber da ist noch dieses Verschwinden von Rébecca … Muslimische Fundamentalisten und Juden, in ein und denselben Fall verwickelt – findest du das nicht auch ein bisschen dick aufgetragen?«
Aber Rachel wartet seine Antwort gar nicht erst ab. »Auf der anderen Seite haben wir die Familie von Laura. Commissaire Jeanteau aus Niort hat die Eltern besucht und sie über den Tod ihrer Tochter informiert. Danach hat er mich angerufen. Die Reaktion der Eltern war wohl ziemlich merkwürdig, so als ginge sie das alles nichts an. Die Frau hat von Dämonen gesprochen und gesagt, ihre Tochter wäre nur gekommen, um sie zu besudeln und den Unrat der Welt über ihnen auszuschütten, wie sie es genannt hat. Irgendetwas muss bei Lauras letztem Besuch passiert sein. Etwas ziemlich Seltsames. Die Worte der Mutter sind recht deutlich, vielleicht müsste man sie mal allein befragen. Jeanteau meinte, ihr Mann hätte sie daran gehindert, mehr zu sagen.«
»Mann, seit gestern Abend ist ja eine ganze Menge passiert! Wir müssen ganz schön ranklotzen, wenn wir all diese Spuren verfolgen wollen. Ach ja, fast hätte ich Mercator vergessen: Er verdächtigt unsere lieben Kollegen aus dem Achtzehnten, Enkell und Benamer. Grob gesagt vermutet er, dass Enkell ihn belügt – dass er zwar etwas über den Anruf aus der Telefonzelle weiß, ihm die Information aber ganz bewusst vorenthält. Als ich ihn fragte, ob Benamer noch immer Enkells rechte Hand ist, sagte er wörtlich: ›Das Böse existiert, Hamelot. Und nur allzu oft organisiert es sich.‹ Er hat außerdem vom Geruch des Todes gesprochen. In diesem Augenblick hatte ich echt Angst zu ersticken. Ich musste einfach raus und dich an einem lebendigen Ort treffen. Jedenfalls nicht bei uns im Bunker.«
Rachel wird blass.
»Benamer«, wiederholt sie.
»Was ist mit Benamer? Sag schon!«
Sie schüttelt langsam den Kopf, ehe sie beschließt, ihn einzuweihen. »Benamer! Wir hatten ein kurzes Techtelmechtel, das bei mir das Gefühl von Beschmutzung zurückgelassen hat. Er war Dozent in einem Seminar in Cannes-Écluse, als ich in der Ausbildung war, und hatte das gewisse Etwas, das mich sofort anzog. Es war ungefähr so, wie wenn man sich mit seinem Skilehrer einlässt. Leider habe ich nicht rechtzeitig erkannt, dass seiner Anziehungskraft etwas Böses anhaftet, das wurde mir erst gegen Ende des Lehrgangs klar. Hinterhältig und mit Unschuldsmiene hat er versucht, uns die schlimmsten Scheußlichkeiten als absolut normal zu verkaufen. Wie bekomme ich ein Geständnis?
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