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Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)

Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)

Titel: Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karim Miské
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Höhle zurück. Dreißig Sekunden später erscheint eine zweite, normalgewichtige Gestalt auf der Schwelle und nimmt sich Zeit, Jean zu begutachten, ehe auch sie wieder verschwindet. Es dürfte schwierig werden, in das Geschäft zu gehen und Fragen zu stellen wie: »Haben Sie am 18. Juni gegen halb zehn abends den Mörder telefonieren sehen?« Jeans Uhr zeigt Viertel vor elf. Nein. Wenn er vor Rachel ankommen will, ohne das Blaulicht zu benutzen, muss er jetzt losfahren.
    Bei Gastelier, mit Blick auf die Zahnradbahn und Sacré-Cœur, bestellt er sich ein Schokohörnchen und einen doppelten Espresso. Le Parisien und Libération sind frei, aber Jean hat keine Lust, sich mit dem Weltgeschehen zu befassen. Er freut sich auf die Wonne des ersten Bisses. Die Schokohörnchen sind hier besonders zart und herrlich weich, ohne sich schwammig anzufühlen. Das Vergnügen ihres Genusses ergibt sich sowohl aus der Konsistenz als auch aus dem Geschmack. Jedes Mal, wenn er hier sitzt, wundert er sich, wie ein solches Lokal zwischen einer Filiale von Häagen-Dazs und einer auf alt getrimmten Kneipe überleben kann. Wie lautete das Zitat noch gleich? Das Wahre ist ein Moment des Falschen … Oh ja!
    Rachel erscheint gleichzeitig mit seiner Bestellung. Sie lässt den Kellner servieren, bestellt das Gleiche und setzt sich. Jean bekommt kein Küsschen auf die Wange, stattdessen zeigt Rachel ein seliges Lächeln, das ihre ganze Umgebung erhellt.
    »Ich habe heute Morgen mit Mercator gesprochen. Er hat mir ganz schön Angst eingejagt. Wenn der vom Bösen spricht, glaubt man sich fast in Dantes Inferno … Aber lass uns besser mit dem Leben als mit dem Tod anfangen. Gestern Abend habe ich mich entschieden, umzuziehen. Das zwölfte Arrondissement ist der blanke Horror: Da leben faschistoide Weiße und mit Beruhigungsmitteln gedopte Araber. Ich will in ein lebendiges Viertel. Ins Achtzehnte vielleicht oder ins Zehnte. Ich weiß nicht. Auch der Norden des Neunten wäre nicht schlecht. Jedenfalls in ein Viertel mit Nachtlokalen. Mit Leuten. Mit Menschen eben.«
    Rachel hört ihm immer noch lächelnd zu.
    »Das war aber auch höchste Zeit. Ich habe mich schon immer gefragt, warum du in diesem düsteren Wohnsilo an diesem morbiden Boulevard wohnst. Sobald wir den Fall hier gelöst haben, helfe ich dir, ein neues Zuhause zu finden. Das Zehnte würde ganz gut zu dir passen, bei den Tamilen, irgendwo zwischen La Chapelle und dem Gare de l’Est. Ich glaube, dort würdest du dich wohlfühlen. Bei Gelegenheit lade ich dich mal zu Masala Dosa ein. Die Dinger sind ganz köstlich! Aber ehe du mir jetzt von Mercator berichtest, muss ich dir etwas erzählen. Es gibt etwas, das mich heute Morgen ziemlich aufgewühlt hat.«
    »Aufgewühlt? Du siehst eigentlich ziemlich glücklich aus! Als hättest du im Lotto gewonnen, oder … ja, richtig, als hättest du den Mann deiner Träume kennengelernt. Da gibt es doch diesen kanadischen Song: ›J’ai rencontre l’homme de ma vie‹ (Ich habe den Mann meines Lebens kennengelernt). Der Kerl fragt die Frau: ›Nimmst du Wasser in deinen Whisky?‹, und sie antwortet: ›Nein, ich trinke ihn trocken …‹«
    »Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du ein absoluter Blödmann bist?«
    »Oh ja. Du zum Beispiel. Okay, entschuldige. Ich habe heute Morgen irgendwie Lust auf Blödsinn. Ich muss Dampf ablassen.«
    »Jetzt fällt mir mein Outing noch schwerer, weil du im Grunde nicht ganz falschliegst. Pass auf, ich sage es dir jetzt einfach, aber du verrätst niemandem ein Sterbenswörtchen und enthältst dich jeglichen Kommentars. Ich muss mit jemandem darüber reden, und weil es mit unseren Ermittlungen zusammenhängt, bist du derjenige, der dran glauben muss.«
    »Einverstanden. Und großes Indianerehrenwort!«
    »Heute Morgen hat Taroudant bei mir angerufen. Kurz bevor ich das Haus verlassen wollte.«
    »Aha, das ist es also! Wenn ich dich richtig verstanden habe, hat Taroudant dich um zehn Uhr vormittags angerufen, und du freust dich total darüber. Ist dir klar, dass du dich von einem halb verrückten Araber anbaggern lässt? Einem Verdächtigen in einem Mordfall, in dem du mit deinem hier anwesenden Kollegen ermittelst?«
    »Ich bin mir dessen durchaus bewusst.«
    »Es sieht aber nicht danach aus. Jemand hat mit einem zehn, fünfzehn Zentimeter langen Messer in Lauras Genitalbereich herumgeschnippelt, und Taroudant hat nicht nur die Schlüssel zur Wohnung, sondern auch kein Alibi. Er ist immer noch im Rennen, und

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