Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
Für ihn war das lediglich eine Frage der Technik, dabei spielte es überhaupt keine Rolle, ob der Betroffene schuldig war oder nicht. Auch der Sex mit ihm bestand hauptsächlich aus Technik. Er war unermüdlich. Beim ersten Mal kam ich voll auf meine Kosten. Aber dann stellte ich fest, dass ich ihm etwas vorspielen musste, weil er sonst wahrscheinlich nie aufgehört hätte … Ich weiß nicht, irgendwie hat er mir Angst gemacht. Er hat vermutlich gespürt, dass ich nur so tat, als ob – sein Blick wurde jedenfalls immer misstrauischer. In Wirklichkeit hat er mich aber getestet – und ehrlich gesagt war ich sehr erleichtert, dass ich diesen Test nicht bestand. Ich musste immer an den Teufel denken …«
Rachel bricht ab, schließt die Augen und schüttelt sich dann.
»Okay, lass uns loslegen. Vielleicht sollten wir mit dem Besuch bei Haqiqi beginnen. Nein, lass nur. Die Rechnung übernehme ich.«
21
Abdelhaq Haqiqi, der selbst ernannte Imam des Gebetssaals Srebrenica, ist äußerst genervt. Seit zwei Stunden, genauer seit dem Ende der Sure al-Fajr , stehen diese Tagediebe beisammen und diskutieren. Jeder hört sich gern reden und wiederholt zum hundertsten Mal das Gleiche. Abdelhaqs Gläubige sind drauf und dran, die ärgerliche Neigung zu entwickeln, den Gebetssaal mit dem Café an der Ecke zu verwechseln. Von den üblichen morgendlichen Besuchern fehlt keiner. Mahmoud und Brahim sind da, und natürlich Robert – der Schlimmste von allen. Als Leiter der kleinen Gruppe Rechtgläubiger fühlt er sich in die Rolle des Kneipenwirts gedrängt, der den schlecht gelaunten Fußballfan, der ständig über das letzte Spiel redet, und den rechtsradikalen, angeheiterten Arbeitslosen, für den die Araber und Schwarzen (und die Juden, aber das würde er nur im kleinen Kreis aussprechen) Schuld an allem sind, einfach nicht vor die Tür setzen kann. Er kann die Loser und Drückeberger nicht rauswerfen, aus denen er seine Klientel rekrutiert und die ihm als Deckung dienen. Genüsslich ziehen sie ihn in ihren Redefluss hinein, in dem immer die gleichen Worthülsen wie Nilpferdexkremente obenauf schwimmen: die CIA; die Juden, die über den 11. September schon vorher Bescheid wussten; den Vorsteher der Pariser Moschee, der an die Freimaurer verkauft wurde; Halal-Lebensmittel, die nicht wirklich ›halal‹ sind … Abdelhaq klammert sich so gut wie eben möglich an einen Zweig über dem schlammigen Fluss. Es ist ein seltsames Gefühl, denn vor noch nicht allzu langer Zeit dachte er wie sie und badete in dem gleichen trüben Wasser, dessen wohlig laue Wärme er genoss. Das war, bevor er Aïssa kennenlernte und sich zum ersten Mal im Leben für weltliche Dinge interessierte. Genau genommen denkt er immer noch wie die anderen. Aber es ist ihm egal. Inzwischen sind seine Ziele eher irdisch denn himmlisch. Und das verändert alles.
»Also ganz ehrlich, die Juden und die Medien …«
»Klar, die haben alles unter Kontrolle!«
Abdelhaq bemüht sich, nicht hinzuhören, und denkt über seine Lage nach. Scheiße. Gerade als alles wie am Schnürchen zu laufen scheint, verlangt Aïssa, dass sie aufhören. Grund dafür ist diese Frau. Er hat noch immer nicht begriffen, inwiefern sie eine Gefahr darstellt, aber Aïssa weiß offensichtlich, was zu tun ist. Abdelhaq selbst kann jedenfalls so gut wie nichts dafür, dass die Sache den Bach runtergeht. Er hat lediglich einen kleinen Casting-Fehler begangen, als er an jenem Abend seine drei besten Leute zu dem Treffen bei Sam schickte. Alle außer Moktar sind umgefallen. Und weil die Zeit drängte, wurde Sam nervös und präsentierte einen Plan B, laut dem der psychotische Salafist aus der Sahara mit einem psychopathischen Mörder aus dem Elsass zusammenarbeiten sollte. Von diesem Moment an geriet die gesamte Operation ins Wanken. Im Moment weiß niemand so genau, wie es weitergehen soll. Sie verlieren vor allem Zeit, und das ist alles andere als gut. So, wie der Plan bis zu dem Zwischenfall lief, hatte er sogar eine durchaus göttliche Seite. Inzwischen allerdings ist die Zeit reif für Kompromisse. Vielleicht ist es ja eine Art Prüfung. Er muss sich jedenfalls zunächst darum kümmern, seine Leute auf eine gewisse Wartezeit einzustellen, worüber sie sich vermutlich ziemlich aufregen werden. Diese Dummköpfe sitzen immer noch im Gebetssaal herum und wollen partout nicht gehen. Islamistische Sozialhilfeempfänger, die bei ihren Eltern wohnen und keinen Finger rühren – verdammt, es wird
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