Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
auf? Für wie blöd hältst du mich? Mir liegen jede Menge Bestellungen vor. Die Kunden warten.«
»Es gibt Probleme mit dem Nachschub. Ich habe im Moment nichts auf Lager. Das Problem liegt – wie soll ich sagen? – an der Quelle.«
Mohand macht Anstalten, Abdelhaq am Kragen zu packen.
»Bruder, du wirst dich doch nicht etwa an einem Mann Gottes vergreifen?« Er lächelt sein Gegenüber an, doch die Geste wirkt drohend. »So etwas würde dir doch nie in den Sinn kommen, nicht wahr?«
22
Ahmed sitzt vor einem vollen, dampfenden Kaffeebecher. Monsieur Paul trinkt geräuschvoll wie ein alter Mann, dem sein Benehmen völlig egal ist. Irgendwann fängt Ahmed genauso an zu schlürfen. Schließlich beginnt der Buchhändler:
»Wie viel brauchst du im Monat, um die Behandlung wieder aufzunehmen?«
»Na ja, so zwischen hundertfünfzig und zweihundert Euro.«
»Okay. Du musst vermutlich bar zahlen. Also Cash auf die Kralle und ohne Papierkram, oder?«
»Ich denke schon.«
»Sehr gut. Ich mag nämlich keinen Papierkram. Könntest du jeden Tag ungefähr ein bis zwei Stunden kommen, Bücher umräumen und vielleicht dann und wann ein bisschen auf den Laden aufpassen?«
»Klar.«
»Sehr gut.«
Schweigen. Monsieur Paul lebt schon so lange mit dem Tod, dass er alle Zeit der Welt hat. Ahmed beobachtet ihn. Schon als er bei diesem Mann mit dreizehn Jahren seinen ersten Horace McCoy gekauft hat, kam er ihm alt vor. Heute allerdings beinhaltet das etwas anderes. Er wirkt auf Ahmed wie ein Wesen aus einer anderen Welt. Mit einer kleinen Anlehnung an Clint Eastwood oder Morgan Freeman. Er hat den Durchblick eines Menschen, der sein Leben gelebt hat. Der weiß, dass das Ende zwar nicht mehr weit ist, aber dass es im Grunde schon immer so war. Und er hat die Klasse eines Menschen, der das Leben liebt, weil er dem Tod ins Gesicht geschaut hat. So etwas lernt man nicht erst mit achtzig. Falls Ahmed je dieses Alter erreichen sollte, wird er so sein wie Monsieur Paul. Und Monsieur Paul weiß das. Es verbindet die beiden. Der junge Mann schlürft den nächsten Schluck. Er verhält sich wie ein alter Mann. Er ist alt. Und das gefällt ihm. Schweigend wartet er ab.
»Liegt es an Laura? Ist es ihr zu verdanken, dass du aufgewacht bist?«
»Ich denke schon. Sie ist umgebracht worden. Ich weiß nicht – vielleicht hätte ich sie lieben können. Auf meine Art habe ich sie sogar geliebt. Ich habe mir das Leben vorgestellt, das wir zusammen hätten haben können. Bis hin zu Kindern und einer Scheidung. Aber jetzt muss ich anfangen, etwas zu tun. Für sie. Natürlich auch für mich. Ich bin in der Pflicht dem gegenüber, das zu erleben uns nicht vergönnt war. Und um nicht in diese Falle zu tappen.«
»Wie hast du gemerkt, dass da eine Falle war?«
Ahmed ist keineswegs überrascht. Monsieur Paul weiß sehr viel.
»Es waren Blicke. Worte. Sam, Moktar und Ruben …«
»Sehr gut. Du hast einiges begriffen. Du bist bereit, zu kämpfen und deine Schwäche als Waffe zu benutzen. Du weißt, dass sie dich nicht als Gefahr einschätzen. Sie denken, sie könnten sich mit dir amüsieren. Das ist immerhin ein Anfang. Was sagen die Bullen?«
»Ich …«
Ahmed schließt die Augen und lässt den Besuch der beiden Polizisten Revue passieren. Jede Einzelheit hat sich ihm eingeprägt. Langsam tauchen Gefühle auf. Das bedruckte Kleid von Maggie Cheung. Das rote Haar von Rachel. Langsam, aber für alle Ewigkeit. Er öffnet die Augen.
»Die Frau ist ungefähr fünfunddreißig. Aschkenasische Jüdin. Sie ist schön. Sie hat Sommersprossen, genau wie Esther, das erste Mädchen, das ich im Gymnasium geküsst habe.« Von sich selbst überrascht, fährt er fort: »Ich habe mich in sie verliebt.« Und als wolle er die Entgleisung wiedergutmachen, fügt er hinzu: »Sie liest Ellroy. Ihr Lieblingsbuch ist White Jazz . Genau wie meins. Ich glaube, ich wusste schon immer, dass ich nur eine Ellroy-Leserin lieben kann. Allerdings dachte ich, dass so etwas gar nicht existiert. Zumindest nicht unter den hübschen Frauen.«
Monsieur Paul sagt nichts. Er trinkt seinen Becher aus, hört zu und wartet. Dabei lächelt er leise.
»Der Mann liest ebenfalls Krimis. Aber eher die Klassiker. Ich habe beobachtet, wie sein Blick lange auf Das letzte Hemd hat keine Taschen von McCoy ruhte. Als hätte ihn das Buch an etwas erinnert. Seltsam, mir ist überhaupt nicht aufgefallen, dass ich diesen Einzelheiten Aufmerksamkeit schenke. Er und sie sind gleich alt. Er ist kein Jude.
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