Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
Vielleicht Bretone. Er hat ein wässriges Gesicht. Sie heißen Rachel Kupferstein und Jean Hamelot.«
»Rachel ist die Tochter von Aaron Kupferstein. Er war Kürschner und hatte seine Werkstatt hier ganz in der Nähe in der Rue des Carrières-d’Amérique. Er stammte aus Wilna, dem Jerusalem des Nordens. Vor dem Krieg war Wilna die größte jüdische Stadt Europas. Glücklicherweise hat er sie schon als Kind 1938 verlassen. Mit seiner ganzen Familie. Jemand versteckte ihn irgendwo im Departement Seine-et-Marne, als seine Eltern ins Vel d’Hiv gebracht wurden. Sie starben, er überlebte. Er war nicht mehr ganz jung, als er Alicia, eine rumänische Jüdin, heiratete. Ihre Eltern hatten Buchenwald überlebt und flüchteten, sobald es möglich war, vor dem kommunistischen Antisemitismus, der sich in Bukarest ausbreitete. Rachel ist 1969 geboren. Ich habe sie aufwachsen sehen. Hamelot ist der Sohn eines bretonischen Kommunisten. Er ist vor sechs Jahren nach Paris gekommen und hat hier seine erste Anstellung gefunden. Manchmal kommt er auf der Suche nach einem alten Hammett hier vorbei. Er redet nicht viel, genau wie du.«
»Aber wie …«
»Oh, ich war dabei. Die Nazis hatten nichts gegen Armenier. Ich habe den Krieg ganz ruhig hier verlebt. Nun ja, zumindest größtenteils ruhig. Aaron habe ich schon als Kind gekannt. Sagen wir mal so: Ich habe ein paar Dinge miterlebt, die noch heute merkwürdige Echos hervorrufen. Bei Rachels Geburt war ich so gut wie anwesend. Ahmed und Rachel. Ja, diese Geschichte gefällt mir. Sie gefällt mir sogar sehr gut.«
Der junge Mann spürt, dass jetzt nicht der richtige Moment ist, um Fragen zu stellen. Monsieur Paul schaut ihn an und muss lachen.
»Weißt du was? Du solltest dir die Haare schneiden lassen.«
Ahmed hört ihn zum ersten Mal lachen. Es ist ein etwas heiseres, von Zigaretten und Kaffee zerfurchtes Lachen. Die merkwürdige Wendung in ihrer Beziehung verunsichert ihn. Er hatte schließlich schon am Morgen beschlossen, zu Sam zu gehen. Unvoreingenommen, einfach nur, um die Luft in der Höhle des Löwen zu schnuppern, sich dumm zu stellen und die Situation auszuloten.
»Oh ja. Und stell dich dumm. Sie halten dich ohnehin für harmlos und ungefährlich. Deswegen wollen sie dir ja den Schwarzen Peter in die Schuhe schieben. Sam ist boshaft und verfügt allenfalls über die mechanische Intelligenz eines Domino-Spielers. Seit dreißig Jahren beobachte ich ihn. Seit er aus Tiznit hier angekommen ist. Er verhält sich immer gleich: Ein Zug nach dem anderen. Tak, tak, tak. Hier im Viertel funktioniert das eigentlich immer. Die anderen sind damit beschäftigt, ihr Überleben zu sichern und zu versuchen, sich angesichts ihrer Geldnot und der religiösen Führer, die ihnen die Luft zum Atmen nehmen, etwas mehr Raum zu verschaffen. Wie also sollten sie Sams Züge verfolgen? Im Übrigen spielt er allein … Das hier allerdings ist eine etwas andere Partie. Sie ist ein wenig zu groß für ihn. Ein wenig … zu groß.«
»Sam? Hat er wirklich damit zu tun? Habe ich mir das in meinem stillen Kämmerlein nicht nur eingebildet? Was hatte er denn nur gegen Laura?«
»Absolut nichts. Er hatte nichts gegen sie. Aber wie du schon selbst gemerkt hast, steckt er mit drin. Wie auch die anderen, die du schon aufgezählt hast. Moktar, Ruben … Und noch ein paar andere. Ihre Motive? Die Strippenzieher? So ganz genau blicke ich auch noch nicht durch. Aber sowohl bei den Juden als auch bei den Moslems geschehen merkwürdige Dinge. Dinge, die weder koscher noch halal sind. Weißt du, das Böse kann man nicht im Ganzen und auf ein Mal wahrnehmen. Es wird sich vor unseren Augen wie ein Mosaik zusammenfügen, du wirst schon sehen. Aber in der Zwischenzeit solltest du dich nicht zu lange hier aufhalten, die Zeit ist reif für Sams Frisiersalon. Er wird ausgesprochen zufrieden sein, dich als ersten Kunden zu bedienen. Sehr zufrieden sogar. Außerdem beginnt heute Abend der Sabbat. Sperr Augen und Ohren auf, und stell dich dumm. Und vergiss nicht, allen zu sagen, dass du mir von jetzt an im Laden hilfst. Danach rufst du Rachel an und berichtest ihr. Und vergiss nicht, sie von mir zu grüßen.«
23
Avenue C, Alphabet City, Manhattan, ein Jahr vorher
Das Zimmer ist fast leer. Ihr Refugium. Zum ersten Mal haben James und Susan einen Fremden in ihren Schlupfwinkel eingeladen. Auf dem Tisch liegen drei blaue Pillen.
GODZWILL
Der Name fasziniert James. Er hat darin ihre Zukunft erkannt. Eine strahlende
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