Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
Mich gibt es. Und auch ich bin nicht so wie auf dem Foto.« Mit kindlichem Stolz. Die Sache hat ihn verletzt.
Sie kommt. In einer Plastiktüte trägt sie die Bücher, die in diesem Semester im Fachbereich Black Studies der Universität Boulder in Colorado gelesen werden. Er tritt einen Schritt auf sie zu.
»Rébecca!«
Überrascht blickt sie den Fremden an, der sie in dieser riesigen Stadt, in der sie keine Menschenseele kennt, einfach so mit ihrem Namen anspricht. Seine Jeans hängen auf die grünen Converse-Schuhe herunter, unter dem Marcus-Garvey-T-Shirt sind die Zizijot kaum zu erkennen, und er trägt eine grün-gelb-rote Kippa. Noch nie im Leben hat sie einen orthodoxen Juden mit Dreadlocks gesehen, der wie ein etwas pummeliger Rugbyspieler gebaut ist. Und der sie obendrein auch noch anlächelt. Irgendwo in ihrem Hinterkopf geht ihr ein winziges Licht auf, das sie gern ignorieren würde.
»Ja?«
Wortlos hält er ihr das Foto hin. Rébecca wird so blass, als hätte sie einen Geist gesehen. Sie leugnet nichts, sondern greift nach dem Foto, betrachtet es intensiv und hebt dann die Augen zu dem komischen Kerl empor. Ihre Lippen formen eine stumme Frage. »Dov?« Er nickt schweigend.
Wenn er so tollpatschig und verdrießlich gewesen wäre wie auf dem Foto, das Ruben ihr gegeben hatte, hätte es keinen Zweifel an ihrer Reaktion gegeben: Sie hätte sich über ihn lustig gemacht und wäre ihm aus dem Weg gegangen. Die Sache wäre innerhalb von zwei Minuten erledigt gewesen. Aber jetzt ist sie ratlos. Natürlich trägt er Kippa und Zizijot, trotzdem erkennt sie sofort, dass etwas nicht passt. Er ist ebenso wenig ultra-orthodox wie sie selbst. Was hat das zu bedeuten? Was soll diese Geschichte? Wie ist es möglich, dass zwei Juden, die der schwarzen Kultur eindeutig näherstehen als der Torah, beinahe eine arrangierte Ehe eingegangen wären, wie zu Zeiten des Schtetl und der Mellah? »What the fuck?« Die letzten Worte hat sie laut ausgesprochen. Nachdenklich wiederholt Dov: »Genau. What the fuck! Komm, wir gehen zu Starbucks und reden. Das sind wir uns schuldig.«
Eine halbe Stunde später hat Dov seinen Weg von Wichita nach Brooklyn über Harvard und das Gefängnis beschrieben, dabei allerdings verschwiegen, dass er mit seinem Talent für Chemie eine neue Droge erfunden hat, die gerade auf dem französischen Markt eingeführt wird und bei deren Verteilung Rébeccas Bruder Ruben unwissentlich eine wichtige Rolle spielt. Die von Rebbe Toledano gewünschte Ehe wäre in gewisser Weise eine Geschäftsverbindung gewesen. Sie hätte das transatlantische Bündnis zwischen zwei Zweigen einer chassidischen Sephardenbewegung gestärkt, die sicher binnen Kurzem dank der Erlöse von Godzwill einen fulminanten Aufschwung erleben wird. Darüber allerdings spricht er nicht. Zum ersten Mal schämt er sich sogar ein wenig. Die Ehrlichkeit der jungen Frau spricht in ihm eine ihm bisher unbekannte Seite an. Er ist fast verlegen, weil sein Bericht über den Bruch mit seiner Familie und seine Hilflosigkeit im Gefängnis Rébecca tief berührt. Um seiner Gefühlsduselei Herr zu werden, erkundigt er sich, wieso sie sich in chassidischer Kleidung hat fotografieren lassen und beinahe eine arrangierte Ehe eingegangen wäre.
Sie versucht ihm zu erklären, dass ihre Mutter sich an die Religion geklammert hat, nachdem ihr Ehemann sie verlassen hatte. Ruben tat es ihr bald nach, weil er die Auflösung seiner Hip-Hop-Gruppe nicht verkraftete. Ganz in der Nähe ihrer Wohnung hatte eine ultraorthodoxe Synagoge ihre Pforten geöffnet. Geleitet wurde sie von Rabbi Chaim Seror, wie sie Marokkaner. Innerhalb weniger Monate war es ihm gelungen, die gesamte Familie zu vereinnahmen, einschließlich Rébecca, die nicht auf die Menschen verzichten wollte, die sie neben ihren Freundinnen am meisten liebte. Sie kleidete sich dezenter, beachtete den Sabbat, so gut es ging, besuchte aber weiter das Gymnasium und später die Universität. Fast vier Jahre lang ließ man sie in Ruhe, während in der Gemeinde die jungen Frauen ihres Alters eine nach der anderen heirateten. Aber dann wurde auch sie zur Ehe gedrängt. Sie versuchte, Zeit zu gewinnen, wollte zunächst noch ihr Studium beenden und sagte, sie sei noch nicht bereit. Aber ihre Mutter bestand auf einer Ehe, ebenso wie Ruben, und schließlich begann ihr Widerstand zu bröckeln. Ihr ist klar, dass sie nur aus Liebe zu ihrer Familie nachgegeben hat. Angesichts ihrer Traurigkeit fühlte sie sich hilflos.
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