Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
Ihre Welt stürzte in sich zusammen. Ihre Eheschließung war zum Zentrum des Interesses ihrer Mutter und ihres Bruders geworden – sie wurde geradezu zu einer existenziellen Frage, als könne sie damit die Flucht ihres Vaters ungeschehen machen und den Lauf der Zeit umkehren. Schließlich mischte sich auch noch die Schwester des Rabbiners ein und erzählte ihnen von einem jungen Juden in Brooklyn, der zwar aschkenasischer Herkunft, aber immerhin in Harvard ausgebildet worden war und von Rebbe Toledano protegiert wurde. Wie sie doch strahlten, die marokkanischen und tunesischen Juden im 19. Arrondissement von Paris, wenn von Brooklyn und dem Rebbe die Rede war! Er war der Messias und das neue Jerusalem. Und schließlich hatte Rébecca zugestimmt, um ihre Mutter endlich wieder einmal lächeln zu sehen. An diesem Tag war das Foto aufgenommen worden.
Trotzdem hatte sie die ganze Sache verdrängt. Noch nicht einmal mit ihren Freundinnen, denen sie sonst alles erzählte, sprach sie darüber. Die Freundinnen machten sich ohnehin schon Sorgen, seit sie ernsthaft oder vorgeblich der familiären Teschuwa folgte – der Rückkehr zum »wahren« jüdischen Glauben. Dann war drei Wochen lang nicht mehr über die Hochzeit gesprochen worden, aber wenige Tage nach den letzten Klausuren hatte ihre strahlende Mutter plötzlich verkündet, dass Dov sechs Tage später zur Verlobung in Paris eintreffen würde. Für Rébecca war es ein unglaublicher Schock, der sie in gewisser Weise aufweckte. Sie rief ihre Freundinnen an.
Sie trafen sich bei Laura mit Aïcha und Bintou zum großen Kriegsrat, wo sie einstimmig den Entschluss fassten, dass Rébecca mit dem ersten von Laura betreuten Flug ausgeflogen werden müsse. Die Ironie des Schicksals wollte es, dass es ausgerechnet nach New York ging. Glücklicherweise war Rébeccas Pass nach einer Israelreise vor vier Jahren noch gültig. Am Donnerstagmorgen schrieb sie ihrer Mutter und ihrem Bruder einen kurzen Brief und verließ die Wohnung, das Haus und die Straße, in denen sie aufgewachsen war, ohne sich noch einmal umzublicken. Bei Laura zog sie sich um und wurde wieder sie selbst. Sechzehn Stunden später stiegen die beiden Freundinnen am Grand Central aus dem Shuttle von Newark.
»Ich war so glücklich! Ringsum Wolkenkratzer. Und ich fühlte mich so frei wie nie zuvor. Und … ich hoffe, du entschuldigst … umso freier, als ich ausgerechnet hier eingesperrt werden sollte.« Sie fixiert ihn erstaunt, ehe sie fortfährt: »Und heute sitzen wir bei Starbucks und reden darüber. Ganz schön merkwürdig. Als ich dich sah, hätte ich eigentlich so schnell wie möglich verschwinden sollen. Aber ich bin mit dir gegangen. Erstaunlich, wirklich! Aber hier geschehen schon seit meiner Ankunft seltsame Dinge. Als wir am Grand Central aus dem Bus stiegen, haben wir bei einem pakistanischen Händler eine Flasche Wasser und eine Zeitung gekauft. Plötzlich wurde Laura käseweiß und starrte nur noch geradeaus. Ich sah, wie ihre Lippen das Wort ›Papa‹ formten. Ich folgte ihrem Blick und sah eine hübsche, junge, blonde Frau, die leidenschaftlich einen ergrauenden Mittfünfziger küsste, der sich dabei offenbar alles andere als wohl fühlte. Er sah uns nicht, stieg in den Shuttlebus zum Flughafen und verschwand. Meine Freundin war wie versteinert. In New York auf den eigenen Vater zu treffen – übrigens einen ultraorthodoxen Zeugen Jehovas –, der gerade dabei ist, eine Frau im Alter der eigenen Tochter zu küssen, das war wohl ein bisschen zu viel.«
»Ist deine Freundin bei den Zeugen Jehovas?«
»Nein, sie hat die Gemeinschaft verlassen. Ihre Kindheit und Jugend müssen die wahre Hölle gewesen sein. Ihr Vater gehört zu den höchsten Führungskräften in der französischen Provinz.«
Rébecca verliert sich in Gedanken. Als sie wieder auftaucht, stellt sie fest, dass Dov blass geworden ist.
»Was ist los? Du siehst aus, als wärst du einem Gespenst begegnet. Hat dir meine Geschichte so zugesetzt?«
Er reißt sich zusammen, lächelt sie linkisch an und wirft einen Blick auf seine Uhr.
»Nein, mir ist nur aufgefallen, dass ich ziemlich spät dran bin. Ich habe nämlich einen wichtigen Termin. Tut mir leid, Rébecca, aber ich muss sofort los. Können wir uns wiedersehen?«
»Ich reise morgen ab. Hör zu, Dov, ich weiß nicht, ob ich dich überhaupt wiedersehen möchte. Mein Leben hat sich verändert. Gib mir doch einfach deine Nummer, dann rufe ich dich an, wenn ich Lust dazu habe. Aber ich
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