Entfuehrt
besonders. »Danke.«
Er nickte, und sie folgte ihm nach draußen zu seinem Auto. In den ersten Minuten saß sie zusammengesunken auf dem Beifahrersitz, als hätte sie keinen Knochen im Leib. Der anstrengende Tag forderte seinen Tribut. Onkel Cal schien in seine eigenen Gedanken vertieft zu sein. Sie teilten den Wunsch nach Ruhe, und Isabelle genoss das Schweigen. Heute Abend schlich sich allerdings auch ein gewissen Schuldbewusstsein in ihre Gefühle.
Endlich ergriff sie das Wort. »Es tut mir leid, Onkel Cal. Was letzte Nacht passiert ist, meine ich. Es ist nur …«
Er hob die Hand, und sie verstummte. »Bitte, Izzy. Es ist alles in Ordnung. Es ist nicht notwendig, dass eine alte Bulldogge wie ich jeden deiner Schritte überwacht. Um es vorsichtig auszudrücken: Mir war’s unangenehm, dass du dich rausgeschlichen hast.«
Ja, es war für beide unangenehm. Was hatte sie sich bloß dabei gedacht? »Ich hätte anrufen sollen.«
»Lieutenant J.G. Hansen hat sich heute früh bei mir gemeldet.«
Sie konnte ihre Überraschung nicht verbergen. Allerdings war es durchaus logisch, dass Jake ihn angerufen hatte, denn ihr Onkel und Jake standen sich nah. Es gab vermutlich die Anweisung, Jake solle auf sie aufpassen. Obwohl sie bezweifelte, dass Onkel Cal damit meinte, dass sie gleich bei Jake einzog. Es sei denn … »Hat er erwähnt, dass er in seinem Haus ein paar Zimmer vermieten möchte?«
»Hat er.« Wie immer war der Klang seiner Stimme neutral, und sie wusste nicht, ob es für ihn ein Problem darstellte, wenn sie bei Jake einzog. Ohne eine weitere Bemerkung zum Thema lenkte er seinen Wagen in die Auffahrt seines Hauses und parkte neben der großen schwarzen Limousine, mit der ihre Mutter stets gefahren wurde. Er wandte sich an Isabelle.
»Ein Brief von Ärzte ohne Grenzen ist gestern bei deiner Mutter gelandet.«
Scheiße. Scheiße. Ihr Verstand arbeitete schnell, aber ihr Onkel stieg bereits aus dem Wagen. Sie holte ihn auf halbem Weg zum Haus ein.
»Onkel Cal … In der Klinik werde ich einfach nicht glücklich. Jedenfalls nicht auf Dauer.«
»Die Sache wird sich entwickeln. Du musst eben auch etwas dafür tun.«
Onkel Cal kannte die Wahrheit ebenso wie sie. Die meisten Militärs beäugten Isabelle immer noch skeptisch und zeigten ihr dieses Misstrauen auch ziemlich deutlich. Die jüngeren Krankenschwestern waren kaum netter.
Dass sie gemieden wurde, war nicht allzu schlimm. Sie hatte nie besonders viele Freunde gehabt, und wenn sie ehrlich war, hatte ihr auch nie etwas gefehlt.
Die Mädchen, die sie im College kennengelernt hatte, waren längst aus ihrem Leben verschwunden. An der medizinischen Fakultät war sie zu beschäftigt gewesen, um Freundschaften aufrechtzuerhalten. Außerdem herrschte dort besonders unter den Chirurginnen ein gnadenloser Wettkampf. Sie hatte es daher bevorzugt, die meiste Zeit für sich zu bleiben.
Unbewusst berührte sie ihre Seite, weil sie im nächsten Moment wieder an Sarah denken musste. Sie fragte sich, wo die Fotografin steckte.
Der dritte Abend in Djibouti. Isabelle war erschöpft. Sie kämpfte sich durch einen riesigen Berg an Formularen, die jeder Arzt von Ärzte ohne Grenzen ausfüllen musste, damit jede einzelne Medikation nachvollziehbar war und deutlich wurde, wofür man Geld ausgab.
Ein kurzer Blitz ließ sie aufblicken. Instinktiv verbarg sie ihr Gesicht hinter der Hand. »Oh, ich mag es eigentlich nicht … fotografiert zu werden …«
Sie hatte einen Großteil ihres Lebens damit zugebracht, den Fotografen und der Presse im Allgemeinen aus dem Weg zu gehen. Inzwischen war sie so gut darin, dass viele Journalisten die Tochter von Senatorin Cresswell schlicht vergaßen.
»Hey, ist schon in Ordnung. Ich hab verstanden.« Sarah legte die Kamera auf den Tisch. »Fotoapparate bringen manche Leute völlig zum Ausflippen. In einigen Kulturen glaubt man, den Fotografierten würde auf diese Weise ihre Seele gestohlen.«
» Sie scheinen das aber nicht zu glauben.«
»Ich glaube, dass es da draußen verdammt viele Menschen ohne Seele gibt. Nix zu holen sozusagen.« Sarah öffnete eine Flasche Orangenlimonade und gab sie Isabelle. »Sie machen gute Arbeit. Sogar Rafe haben Sie beeindruckt, und das ist gar nicht so einfach.«
»Sie kennen ihn?«
»Wir waren früher gemeinsam in ein paar anderen Camps. Ich weiß, was er ist.«
»Er ist Lagerarbeiter.«
»Klar, wir können uns das gern vormachen.« Sarah zündete sich eine Zigarette an. »Ist schon okay. Ich werde
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