Entfuhrt
trotz allem anzurufen. Ganz allgemein, um sich zu erkundigen, ob alles in Ordnung sei, und um darauf zu bestehen, dass sie für den Heimweg ein Taxi nehme. Reine Fürsorge, redete er sich ein, sonst nichts. Und nicht, weil er befürchtete, sie könnte jemandem schmachtend in die Augen sehen oder gespielt sexy an ihrer Unterlippe knabbern.
Mike legte sich seine Worte genau zurecht, bevor er die grüne Taste drückte.
Bin ein bisschen unruhig. Dachte, du würdest wegen des Abendessens anrufen. Nein, nein, sie schläft tief und fest. Wir hatten einen netten Abend, haben einen Turm gebaut. Meinetwegen brauchst du dich nicht zu beeilen. Ich geh jetzt ins
Bett. Du kannst ja versuchen, leise zu sein, wenn du nach Hause kommst, dann stehe ich morgen früh auf und hole Brötchen. Viel Spaß noch. Und vergiss nicht, ein Taxi zu nehmen.
Statt mehrmaligem Klingeln, das von der Stimme seiner Frau abgeschnitten würde, und lauter Musik, Gekreische und Gejohle im Hintergrund sprang sofort der AB an. Eine Computerstimme teilte ihm mit, welche Nummer er gewählt habe, und Mike verlor den Faden.
»Hallo, ich bin’s«, sagte er. »Dein Mann. Wollte nur hören, ob du dich amüsierst. Ich vermute, du bist mit den Kollegen unterwegs. Du, ich leg mich jetzt hin. Sei so nett und nimm dir ein Taxi nach Hause. Ich hab was getrunken und kann dich nicht abholen. Sanna schläft. Kuss. Ciao.«
Er legte auf und bereute im gleichen Moment seine Worte. Sie klangen völlig unnatürlich, und »dein Mann« wirkte unsicher und nervös bevormundend, als wollte er sie ermahnen, keine Dummheiten zu machen.
Er blieb sitzen und starrte auf das Display seines Handys. Als Hintergrundbild hatte er Sanna und Ylva auf dem Badesteg am Hamnplan geladen. Sie waren gerade aus dem Wasser gestiegen und lächelten in die Kamera. Hinter ihnen war die dänische Küste zu sehen.
»Hallo, ich bin’s. Dein Mann …«
11. KAPITEL
Ylva atmete unregelmäßig und versuchte, klar zu denken. Sie waren in die Garage gefahren, hatten sie eine Treppe hinuntergetragen, die 90 Grad nach rechts abbog, nach Westen, Richtung Wasser. Sie waren durch einen vielleicht drei Meter langen Flur gegangen und hatten zwei Türen geöffnet, um in den Raum zu gelangen, in dem sie sich jetzt befand.
Sie verglich ihre Eindrücke mit ihren Erinnerungen an das Haus. Sie hatte es nie betreten, nur von außen gesehen, aber sie wusste, dass der Grundriss fast quadratisch war.
Ylva ging davon aus, dass sie den Raum, in dem sie sich befand, in die Mitte des Kellers hatten einbauen lassen, möglichst weit weg von den Außenwänden. Die Gasbetonsteine, die sie vom übrigen Keller trennten, waren über zehn Zentimeter dick, und hinter diesen Blöcken befand sich vermutlich eine weitere Schallisolierung.
Sie hatten ein Musikstudio gebaut, einen schallisolierten Raum, in dem man so viel Krach machen konnte, wie man wollte, ohne dass etwas nach außen drang. Folglich spielte es keine Rolle, wie laut sie schrie. Niemand würde sie hören.
Aber der Raum konnte nicht vollkommen abgeschlossen sein. Es musste eine Luftzufuhr geben, in Form einer Luftklappe oder sonst was. Sauerstoff drang zwar vermutlich auch durch Türritzen und andere Fugen ein, aber es musste ein Abluftsystem geben.
Rasch durchsuchte sie den Raum, öffnete Schranktüren und untersuchte Wände und Decke. Sie kniete sich auf den Boden und schaute unter das Bett.
Es gab eine Luftklappe im Badezimmer und eine weitere in der Ecke, in der das Bett stand. Ylva stellte den Stuhl neben das Bett und stellte sich darauf. Sie hielt ihren Mund vor die Luftöffnung und rief um Hilfe. Sie bekam einen Krampf im Nacken, und es fiel ihr schwer, das Gleichgewicht zu halten. Einige Male fiel sie fast vom Stuhl, gewann aber stets die Balance wieder. Verzweifelt rief sie um Hilfe.
Als sie schließlich in Tränen aufgelöst aufgab, vom Stuhl stieg und sich aufs Bett sinken ließ, wusste sie nicht, wie viel Zeit vergangen war. Sie schaute auf den Bildschirm. Der Lichtkreis der Straßenlaterne war größer geworden und ihr eigenes Haus war vollkommen dunkel. Es war Nacht.
Ylva fragte sich, ob Mike schon versucht hatte, sie anzurufen. Sie war sich nicht sicher. Vielleicht wollte er, hatte sich dann aber nicht getraut. Weil er sie nicht verärgern wollte und fürchtete, dass sie sich verfolgt und eingeengt fühlen würde. Wie oft hatte sie die Luft anhalten müssen, um nicht die Selbstbeherrschung zu verlieren, weil sie das Gefühl hatte, dass er sie
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