Entfuhrt
Karlsson.
Sie parkten hinter der Schulkantine und fragten einen Schüler nach dem Lehrerzimmer. Dort trafen sie auf eine große Frau, die einmal eine Schönheit gewesen war und jetzt alles unternahm, um zu verbergen, dass sie es nicht mehr war. Karlsson und Gerda brachten ihr Anliegen vor. Die Frau wusste sofort, worum es ging. Der gesamte Lehrkörper hatte in den letzten Tagen über nichts anderes als über Ylvas Verschwinden gesprochen. Sie bat Karlsson und Gerda, im Lehrerzimmer zu warten, und erklärte sich bereit, Sanna aus dem Unterricht zu holen.
Die Frau hielt das Mädchen an der Hand, als sie zurückkam. Sie stellte Sanna den Polizisten vor und erklärte ihr, dass sie mit ihr sprechen, ihr vielleicht auch ein paar Fragen stellen wollten.
»Das ist gar nicht schlimm«, versicherte sie mit ihrer honigsüßesten Stimme und wandte sich dann an Karlsson und Gerda. »Vielleicht sollte ich besser hierbleiben?«
Karlsson nickte zustimmend, und die Frau nahm auf dem Stuhl neben Sanna Platz, ohne ihre Hand loszulassen.
»Wir haben mit deinem Vater gesprochen«, fing Karlsson an. »Er hat erzählt, dass deine Mutter verschwunden ist. Erinnerst du dich, wann du sie zuletzt gesehen hast?«
Sanna nickte.
»Und wann war das?«
Sanna zuckte mit den Achseln. Jetzt versuchte Gerda es. Er sprach mit milderer Stimme als sein Kollege.
»Erinnerst du dich, wo du deine Mama zuletzt gesehen hast?«
»Ja«, antwortete Sanna.
»Und wo war das?«
»Hier in der Schule.«
Die Lehrerin ergänzte.
»Ylva hat Sanna am Freitagmorgen zur Schule gebracht. Sannas Klassenlehrerin hat mit ihr gesprochen. Mike hat Sanna dann abgeholt.«
Gerda nickte dankbar und wandte sich wieder an Sanna.
»Und seitdem hast du deine Mama nicht mehr gesehen?«
Sanna schüttelte den Kopf.
»Was hast du mit deinem Papa am Wochenende gemacht?«
»Wir waren im Väla und bei McDonald’s. Dann haben wir einen Film ausgeliehen.«
»Das klingt nett.«
Sanna nickte.
»Ein Zwilling kommt selten allein.«
Gerda verstand nicht.
»Der ist super«, meinte Sanna.
»Ach so, der Film. Okay. Hat dein Papa den Film mit dir zusammen angeschaut?«
»Der hat telefoniert.«
»Wann hat er dir erzählt, dass deine Mama weg ist?«
»Als Oma gekommen ist. Da kam die Polizei.«
»Sanna, diese Männer hier sind auch von der Polizei.«
Sanna nickte gehorsam, aber nicht sehr überzeugt.
»Aber die anderen waren richtige Polizisten«, meinte sie schließlich. »Papa hat gesagt, Mama würde kommen, wenn ich schlafe, aber das stimmt nicht. Er hat gesagt, sie ist zu Hause, wenn ich aufwache. Das war sie nicht.«
Gerda rückte auf die Stuhlkante vor und beugte sich vertraulich zu Sanna.
»Deine Mama und dein Papa«, sagte er, »streiten die manchmal?«
Gerda starrte durch die Windschutzscheibe.
»Hoffe nur, dass er es ist. Wenn nicht, haben wir gerade sein Leben ruiniert. Diese alte Scharteke wird es überall herumerzählen.«
Er sprach von der großen Frau, die jedem Wort, das gesagt worden war, mit Spannung gelauscht hatte.
»Du wolltest hierherfahren«, meinte Karlsson.
»Hör schon auf«, sagte Gerda. »Entweder taucht sie mit eingeklemmtem Schwanz wieder auf, wenn sie fertig gefickt hat, oder er hat sie umgebracht. Etwas anderes ist gar nicht vorstellbar. Und wenn er es nicht selbst war, dann hat er jemanden beauftragt.«
Karlsson knabberte nervös an der Seite seines Zeigefingers.
»Er kann uns wegen so einer Sache drankriegen«, meinte Karlsson. »An seiner Stelle würde ich uns anzeigen.«
»Du«, meinte Gerda, »hast im Augenblick wirklich andere Sorgen.«
Karlsson schaltete das Radio ein. Eine Person mit affektierter Intonation sprach unnötig schnell und laut.
»Dass die in diesem blöden Radio alle einen Sprachfehler haben müssen«, sagte er und schaltete es wieder aus.
Es war alles so seltsam und unbegreiflich.
Kristina hatte den ganzen Abend vor dem Fernseher gesessen. Sie hatte gesehen, was geschehen war, und gehört, was gesagt worden war, trotzdem hatte sie es nicht verstanden. Sie konnte es nicht begreifen. Die Umwelt war wie blockiert.
Ein Mensch konnte doch nicht so ohne Weiteres verschwinden?
Ein einziger Gedanke füllte ihr Gehirn voll und ganz aus und verhinderte, dass die Fernsehbilder und Kommentare bis in ihr Hirn vordringen konnten.
Es war ein Gedanke, den sie weder denken wollte, noch denken durfte: ein böser Gedanke, der sie gerade deswegen nicht mehr losließ.
Der Verdacht, ihr Sohn könnte etwas mit Ylvas
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