Entfuhrt
Restaurant. Ihm gegenüber hatte sein Interviewpartner, ein Schauspieler, der seinen Zenit längst überschritten hatte, Platz genommen. Er hatte das Restaurant ausgesucht. Die anderen Gäste gehörten zur selben Generation wie der Schauspieler und schielten immer wieder verstohlen zu ihm hinüber. Zweimal waren Leute beim Verlassen des Restaurants an ihrem Tisch stehen geblieben, um dem Schauspieler für viele unterhaltsame, humorige Stunden zu danken. Dieser hatte die Bauchpinselei mit gespielter Demut und großer Begeisterung entgegengenommen.
Der Grund, weshalb Calle Collin seinem Gegenüber nur schwer folgen konnte, war nicht, dass er undeutlich sprach, sondern dass das Gesagte so uninteressant war.
»Ich Erfolg Anekdote Lachpause Publikumsrekord schwierige Kindheit nicht immer ganz leicht trotzdem Erfolg Ich Demut immer Selbstzweifel Ich ein ständiger Kampf Ich das zentrale Ich gestalte Ich Kraft beziehen aus den Charakteren Ich blabla Ich.«
Calle Collin nickte aufmerksam und notierte sich Stichworte. Er fühlte sich wehmütig. Der Schauspieler war kein schlechter Mensch, seine Egozentrik beruhte auf einem schlecht entwickelten Selbstbewusstsein und einem grenzenlosen Bedürfnis nach Bestätigung. Augenblicke wie dieser waren Sauerstoff für ihn.
Calle Collins Interview würde sich in nichts von all den anderen unterscheiden, die der Schauspieler bereits gegeben hatte. Keine neuen Erkenntnisse, und die Wahrheit würde mit Abwesenheit glänzen. Calle würde dem Schauspieler den Text schicken, damit er ihn absegnen konnte, und der Schauspieler würde seine Anmerkungen machen und eventuell sogar andeuten, dass Calles Bemühungen nicht ganz seinen Erwartungen entsprächen, da die Tatsache, dass man ihm einen Platz in einer Illustrierten versprochen hatte, um so viel mehr bedeutete, da der Höhepunkt seiner Karriere schon so lange zurücklag.
Anschließend würde der Schauspieler Calles einzige aufrichtige Beobachtung streichen und das eine oder andere selbstbeweihräuchernde Lobeswort hinzufügen, ehe alle Seiten zufriedengestellt waren oder zumindest so taten.
Der Schauspieler war im Laufe seiner Karriere unzählige Male interviewt worden. Die Fragen und die Antworten waren immer dieselben gewesen. Calle kannte alle Formulierungen, die über die Lippen des Schauspielers kamen, aus anderen Interviews aus dem Zeitungsarchiv. Die Worte waren dieselben und die Traktorspuren so tief, dass der Schauspieler, selbst wenn er aufrichtig und
ehrlich hätte sein wollen, nicht von seinem geschaffenen Selbstbild hätte abweichen können.
»Warum?«, fragte Calle Collin plötzlich und unerwartet.
Der Schauspieler verlor mitten in einer Anekdote, die er mindestens schon hundertmal erzählt hatte, den Faden.
»Wie bitte?«
Calle Collin hatte laut gedacht und keine Ahnung, wovon der Schauspieler gerade gesprochen hatte.
»Wie wurden Sie zu dem Menschen, der Sie heute sind?«, fragte Calle und beugte sich vor.
»Man muss sein, wie man ist, wenn man nicht geworden ist, wie man wollte«, antwortete der Schauspieler automatisch und wie einstudiert.
Calle Collin lächelte ihn freundlich an und nickte.
»Welche Rolle haben Sie in der Schule gespielt?«, fragte er. »Den Klassenclown? Das schüchterne Mauerblümchen?«
Der Schauspieler schwieg lange und antwortete dann.
»Ich war böse«, sagte er. »Ich schlug, um nicht selbst geschlagen zu werden.«
Mike saß am Küchentisch. Es war still. Nicht einmal der Kühlschrank war zu hören. Er wollte weiterblättern, um die Zeitung rascheln zu hören, aber er wusste nicht, wo er die Kraft hernehmen sollte, die Hand zu heben und die Bewegung auszuführen.
Er hatte alles getan. Zumindest redete er sich das ein. Er wusste nicht, ob es stimmte. Vielleicht hatte er auch nichts getan. Vielleicht hatte er ja die ganze Zeit nur wie gelähmt mit einer Zeitung, in der er nicht las, am Küchentisch gesessen, einer Zeitung, die er aus dem Briefkasten geholt hatte, weil er immer die Zeitung aus dem Briefkasten geholt hatte. Jeden Morgen, seit er erwachsen gewesen war.
Ylva war nicht nach Hause gekommen. So einfach war das. Sie hatte sich an ihren Arbeitsplatz begeben, hatte sich an ihrem Arbeitsplatz aufgehalten und hatte ihren Arbeitsplatz verlassen. Aber sie war nicht nach Hause gekommen.
Ylva war verschwunden. Sie hatte sich bei niemandem gemeldet, und niemand hatte etwas von ihr gehört. Sie war weg.
In fünf Tagen wurde ihre Tochter acht Jahre alt. Sannas Mitschüler waren
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