Entfuhrt
sehen, was geschah, aber sie hatte keine Schwierigkeiten, es sich vorzustellen.
Der Lärm früherer Kindergeburtstage hallte immer noch in ihren Ohren.
In der nächsten Stunde geschah nichts weiter, als dass Mike den Müll nach draußen brachte. Dann wurde die Terrassentür geöffnet, und die Kinder stürmten ins Freie. Mike und Anders teilten sie in Mannschaften ein, und eine Art Staffellauf wurde veranstaltet, bei dem man mit einer unters Kinn geklemmten Orange um die Wette laufen musste. Anschließend wurde Topfschlagen gespielt.
Mike und die anderen Erwachsenen verschwanden wieder im Haus. Nach einer Viertelstunde tauchte Mikes Kopf in der Tür auf. Er rief etwas. Die Kinder hielten mitten im Spiel inne und rannten ins Haus.
Süßigkeiten angeln, dachte Ylva.
Der Kindergeburtstag war fast vorbei. Gleich würden die Eltern kommen und Mike und Kristina von dem Lärm und Durcheinander befreien. Einige würden vielleicht noch ein Glas Wein in der Küche trinken und ihnen Gesellschaft leisten, während nach dem zeitlich begrenzten Chaos, das jeder Kindergeburtstag darstellte, wieder Normalität einkehrte.
Sanna strich Margarine auf eine Brotscheibe. Das tat sie stets mit einer solchen Hingabe, dass Mike und Ylva dazu übergegangen waren, die Margarine mit zwei Buttermessern auf den Tisch zu stellen, eines für sie und eines für ihre Tochter.
Für Sanna war jedes belegte Brot ein Kunstwerk, ein Kunstwerk, das erst dann Perfektion erlangt hatte, wenn die Margarine überall gleich dick aufgetragen war und keine Striche und Unregelmäßigkeiten mehr aufwies.
»War das ein schöner Geburtstag?«, fragte Mike.
Sanna nickte, ohne den Blick von dem Brot zu heben.
Ihre Konzentration beim Broteschmieren hatte Mike und Ylva immer amüsiert. Sie hatten sich gefragt, was das wohl bedeuten möge, hatten hin und her überlegt, von wem sie das geerbt hatte, und Mutmaßungen darüber angestellt, in welchen Bereichen ihres Lebens sie später einmal diese zeitverschwenderische Sorgfalt an den Tag legen würde.
Gelegentlich hatte sich Ylva Sorgen gemacht und überlegt, ob Sanna vielleicht an einer Störung litt, ob es sich um eine Form von Autismus oder eine andere psychische Krankheit mit einem komplizierten Buchstabenkürzel handelte. So war es nicht. Butterbrote schmieren war, vermutete Mike, eine Form der Meditation. Es machte schließlich überhaupt keinen Sinn, etwas, das keinen Schaden anrichtete, überzuinterpretieren. Da war es doch viel einfacher, ein zusätzliches Buttermesser in die Margarine zu stecken. Leben und leben lassen. Jedem seine spezielle Eigenheit.
»Und was hat dir am meisten Spaß gemacht?«, fragte Mike.
»Mama kommt nicht nach Hause, oder?«
Die Worte waren wie ein Peitschenhieb ins Gesicht. Mike hatte über die verfehlte Fürsorglichkeit seiner Mutter
nachgedacht. Sie hatte den Selbstmord seines Vaters vor ihm geheim gehalten und vage von einem Autounfall gesprochen. Ein lähmendes Gefühl der Hoffnungslosigkeit und Schuld hatte sich seiner bemächtigt, als er schließlich die Wahrheit herausgefunden hatte. Er hatte beschlossen, nichts zu beschönigen oder seiner Tochter die Wahrheit vorzuenthalten.
»Nein«, sagte er. »Wahrscheinlich nicht.«
»Ist sie tot?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Mike. »Ich weiß überhaupt nichts.«
Sanna steckte das Buttermesser in die Margarine und biss von ihrem Brot ab. Sie sah rasch auf die Tischplatte und wandte den Blick dann Richtung Fenster und der Welt da draußen: frisches Laub, blühender Flieder, bald Sommerferien.
Mikes Augen füllten sich mit Tränen, und seine Nasenschleimhaut schwoll an, sodass er durch den Mund atmen musste.
31. KAPITEL
Freundlichkeit, Privilegien
Wenn die Opfer ausreichend zermürbt worden sind, beginnt der teuflischste Teil des Plans. Der Täter, der sie bislang geprügelt und verhöhnt hat, wird plötzlich freundlich und großzügig. Das Opfer ist verwirrt und beginnt, den Täter in einem neuen Licht zu sehen. Es beginnt sogar, die bisherigen Übergriffe zu relativieren. Der Täter habe nur getan, was er habe tun müssen. Das Opfer versteht ihn. Das Opfer beginnt, die eigene Situation als normal und selbst gewählt zu erleben.
»Schließ die Augen.«
Ylva sah ihn besorgt an. Sie stand wie angewiesen mit den Händen auf dem Kopf da. Er hatte die Tür nur einen Spalt weit geöffnet und schaute zu ihr herein.
»Ich habe eine Überraschung«, sagte er. »Mach die Augen zu.«
Sie gehorchte. Ihre Lider
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