Entfuhrt
zitterten unruhig. Sie hörte, wie er durch die Tür kam und auf sie zutrat. Sie öffnete die Augen. In einer Hand hielt er eine Stehlampe, in der anderen eine schwere Papiertüte.
»Etwas zu lesen«, sagte er. »Ein wenig Zeitvertreib kann nicht schaden. Hast du eine Lesebrille?«
Sie schüttelte den Kopf. Der Mann lächelte sie an.
»Setz dich«, sagte er.
Ylva tat, wie ihr geheißen. Der Mann stellte die Tüte und die Lampe auf den Fußboden und setzte sich neben sie aufs Bett.
»Du bist jetzt hier«, sagte er. »Ich weiß, es ist nicht leicht, das zu akzeptieren. Du möchtest gerne glauben, dass das nur vorübergehend ist, dass du von hier wegkommen kannst. Aber zugleich weißt du, dass das nie geschehen wird. Je früher du das einsiehst, desto früher wirst du zur Ruhe kommen. Glaube mir. In einem Jahr wirst du hier nicht mehr wegwollen. In einem Jahr bleibst du, selbst wenn ich die Tür offen stehen lasse.«
Er strich ihr übers Haar. Als sei sie ein Kind und er der klügere Erwachsene, der sie tröstete.
»Es ist kein schlechtes Leben, das wir dir bieten«, sagte er.
Er legte ihr den Zeigefinger unters Kinn und drehte ihr Gesicht behutsam in seine Richtung.
»Gewalt ist nicht mein Ding«, sagte er. »Ich schlage nur, wenn es nötig ist. Um Gehorsam zu erzwingen. Das ist effektiv, schafft aber keine starken Bande. Mir ist das Zuckerbrot lieber als die Peitsche, das Lob lieber als der Tadel.«
»Aber was sollen wir Ihrer Meinung nach tun?«
Wie die meisten Männer hatte Karlsson einen weichen Kern. Ein unrasierter, verheulter Ehemann mit einer verschwundenen Ehefrau war mehr, als er ertragen konnte. Wäre Karlsson nicht davon überzeugt gewesen, dass Mikes Tränen nur Ausdruck seines schlechten Gewissens und nicht seiner Trauer waren, hätte er zu allem Ja und Amen gesagt.
»Ich will, dass Sie sie finden«, sagte Mike.
»Wie?«, fragte Karlsson.
Mike wusste es nicht.
»Entweder will sie gefunden werden, oder …«
Karlsson hielt inne, aber es war bereits zu spät. Mike weinte erneut.
Mein Gott, was für eine Heulsuse, dachte Karlsson. Wenn er nicht gleich aufhört, fange ich auch noch an.
»Entschuldigen Sie«, sagte Mike.
»Kein Problem«, erwiderte Karlsson. »Vollkommen verständlich.«
Er öffnete eine Schreibtischschublade, nahm ein Paket Papiertaschentücher heraus und warf es über den Tisch.
»Danke«, sagte Mike.
Ein rostiges Mora-Messer, dachte Karlsson.
Eifersuchtsdrama, rostiges Mora-Messer, schlechtes Gewissen.
32. KAPITEL
Im Ausland ließ sich sein Alkoholismus gut kaschieren. Der Mann vermutete, dass dies auch der Grund war, dass sich westliche Männer im Exil zum Verwechseln ähnlich sahen.
Johan Lind war mit einer afrikanischen Frau verheiratet und stolzer Vater zweier kleiner Kinder, aber seine lebergelben Augen waren rot unterlaufen, seine Wangen aufgedunsen, und wie die meisten weißen Männer in der Dritten Welt wies er einen Bierbauch auf.
Johan Lind trank bereits zum Lunch und kehrte auf dem Heimweg von der Arbeit gern in der Bar ein. Die Bar war ein Wellblechschuppen, und das Angebot beschränkte sich auf das lokale Bier sowie eine Handvoll junger Frauen, die sich den Männern auf den Schoß setzten und für Getränke und Trinkgeld über ihre Witze lachten.
Der Mann vermutete, dass Johan Lind damit seine abseitige Existenz rechtfertigte. Mit der diffusen Vorstellung, dass man in Afrika zwar arm sei, aber das Leben zu genießen wisse. Man musste nicht alles so verdammt ernst nehmen. In Schweden hatte man das Lachen verlernt.
Etwas in dieser Richtung.
Der Mann konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob Johan Lind dieser Auffassung war, da er auf Abstand blieb und seine Beobachtungen aus einem Mietwagen heraus anstellte. Er ging aber davon aus, dass seine Analyse zutraf.
Der Mann hielt sich seit sechs Tagen in Zimbabwe auf und wollte seine Aufgabe so rasch wie möglich erledigen. Folgendes wusste er: Johan Lind arbeitete als Polier auf einer Baustelle im Zentrum von Harare. Er wohnte mit seiner Familie in Avondale, einem hübschen Vorort im Nordwesten. Seine Arbeitstage verliefen alle gleich.
Der Mann musste nur eine günstige Gelegenheit abwarten. Die sich bereits am nächsten Tag ergab.
Da Freitag war, beschloss Johan Lind, mit dem Motorrad zur Arbeit zu fahren. Es handelte sich um eine Geländemaschine mit starkem Motor. Der Mann sah ihn von seinem Grundstück fahren und bereits in der Kurve Gas geben wie ein todesverachtender Zwanzigjähriger.
Ziemlich
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