Entfuhrt
lächerlich, fand der Mann und folgte ihm auf Abstand zu seinem Arbeitsplatz in der Stadt.
Als Johan Lind nach der Arbeit, wie es seine Gewohnheit war, die Bar aufsuchte, fasste der Mann seinen Entschluss.
Er wartete ein Stück entfernt. Als Johan Lind langsam an ihm vorbeifuhr, drehte der Mann den Zündschlüssel seines Mietwagens und folgte ihm.
Es war dunkel, und es herrschte kaum Verkehr.
Der Mann wartete, bis sie einen Wegabschnitt ohne Häuser erreichten. Er überholte und schnitt dem Motorrad den Weg ab. Johan Lind verlor die Kontrolle und das
Gleichgewicht. Das Motorrad glitt unter ihm weg, und er blieb auf dem Asphalt liegen. Der Mann parkte am Straßenrand und ging rasch auf ihn zu.
»You idiot, you fucking drove me off the road«, schrie Johan.
Der Mann trat an ihn heran und sah sich rasch um. Johan Lind blinzelte und versuchte, die Schmerzen zu unterdrücken.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte der Mann.
Johan Lind horchte auf, als er seine Muttersprache hörte. Er sah den rücksichtslosen Fahrer, der ihn fast umgebracht hatte, erstaunt an. Er wirkte bekannt.
»Lassen Sie mich helfen«, sagte der Mann. »Ich bin Arzt.«
Er schob seinen Unterarm unter Johans Hals und packte ihn.
»Erinnerst du dich an Annika?«, sagte er und brach seinem Landsmann das Genick.
»Mit anderen Worten: Ihr habt nichts in der Hand?«
Der Staatsanwalt schaute rasch von den Papieren auf, in denen er demonstrativ gelesen hatte, während Karlsson und Gerda die Erkenntnisse vorgetragen hatten, die sie seit Ylva Zetterbergs Verschwinden vor drei Monaten gesammelt hatten.
Sie hatten sich an der Affäre der Verschwundenen aufgehalten, an ihren widersprüchlichen Angaben, wo sie
den Freitagabend zu verbringen gedenke, sowie an ihrer angeblichen Vorliebe für härtere Bettspiele.
Karlsson und Gerda sahen sich an. Sie hofften beide, dass dem anderen ein paar blumige Worte einfallen würden, die der dürftigen, praktisch inhaltslosen Ermittlungsakte etwas mehr Gewicht verleihen könnten.
Der Staatsanwalt fuhr damit fort, in den Papieren zu blättern, ein deutlicher Ausdruck dafür, wie gering er ihren Arbeitseinsatz schätzte.
»Keine Leiche, keine Zeugen, keine dubiosen Kontoauszüge, keine rätselhaften Mails oder mysteriösen Telefonanrufe, kurz gesagt: überhaupt nichts?«
Er sah sie fragend an. Weder Karlsson noch Gerda sagten etwas.
»Damit ist die Sache vom Tisch«, meinte der Staatsanwalt und kehrte zu seinen Papieren zurück, ohne den Beamten weiter Beachtung zu schenken.
»Das war alles«, fügte er dann noch mit leiser Stimme hinzu.
33. KAPITEL
Es gab Klageweiber, allerdings, erstaunlich viele sogar. Menschen, die Beerdigungen beiwohnten, auf denen sie eigentlich nichts zu suchen hatten, die den Kopf zur Seite neigten und dann mit betrübter Miene mitfühlend nickten. Die allermeisten Menschen gingen jedoch auf Distanz. Die große Mehrheit stand der Trauer anderer hilflos gegenüber. Sie wusste nicht, wie sie sich verhalten oder was sie sagen sollten. Sie hatten Angst, sich aufzudrängen, alles nur noch schwerer zu machen, indem sie an sie erinnerten. Sie hatten aber auch Angst, dass die Düsternis irgendwie auf sie abfärben könnte.
Die Trauernden, die mit der Unsicherheit ihrer Mitmenschen konfrontiert wurden, sagten im Nachhinein in der Regel, dass es keine große Rolle spielte, wie die anderen reagierten, sofern sie nur überhaupt etwas unternahmen. Egal in welcher Form.
In Mikes Fall gab es niemanden zu betrauern, es gab nur Ungewissheit und Fragen.
»Sie ist also weg?«
»Ja.«
»Ist sie abgehauen?«
»Das glaube ich nicht.«
»Ist was passiert?«
»Ich weiß es nicht. Sie ist weg. Sie hat sich nach der Arbeit von ihren Kollegen verabschiedet und ist nicht nach Hause gekommen.«
»Was sagt die Polizei?«
»Nichts. Sie sagen, es kommt vor, dass Menschen einfach verschwinden.«
»Irgendwo muss sie doch sein. Ich verstehe das nicht …«
Mikes Freunde und Kollegen konnten ihm schlecht ihr Beileid aussprechen. Denn das hätte bedeutet, die Hoffnung aufzugeben. Nach einiger Zeit begannen sie, sich zu distanzieren. Es gab nichts mehr zu sagen. Ylvas Verschwinden war rätselhaft.
In der Lokalzeitung erschien ein längerer Artikel, nachdem in der Fernsehsendung »Gesucht« ein Beitrag über das fünf Monate zurückliegende Verschwinden gesendet worden war. Die Zeitung beschrieb unter anderem Ylvas letzten Tag an ihrem Arbeitsplatz. Der Artikel umfasste auch eine Liste jener Leute, die in den
Weitere Kostenlose Bücher